In diesem Kapitel werden zuerst die politisch und juristisch besonders bedeutsamen Begleitumstände des Prozesses (1) - Ursache seines tragischen Ausgangs -
geschildert. Danach werden die konkreten Umstände der Verhaftung (2), der Prozessverlauf (3) und die Verteidigung (4) beleuchtet.
Der Prozess als besonderes Verhängnis
Es gibt Menschen, die haben einfach immer Glück. Genauso gibt es Menschen, bei denen sich das Unglück sammelt, weil schicksalhaft privates und politisches Unheil zusammenfinden- zumindest zu bestimmten Zeiten. Zu diesen Menschen muss 1942 Gabriel Weber gerechnet werden.
Wenn man will, könnte man für diesen Prozess gleich ein vierfaches Verhängnis festmachen:
Das Desaster unreflektierter Hilfsbereitschaft
Hilfsbereitschaft ist immer nicht nur altruistisch. Es liegt ihr in der Regel eine hohe Bedürftigkeit nach Anerkennung zu Grunde.
Mindestens die Anerkennung durch den "Beschenkten", meist aber auch darüber hinaus die Anerkennung derer, die vom Geschenk wissen und überhaupt. Es scheint nicht von der Hand zu weisen, dass
Gabriel Weber aus Hilfsbereitschaft heraus gehandelt hat. Selbst der Richter betont das in seinem Schreckensurteil. Gabriel Weber hat sich offensichtlich nach den Ermittlungen der
Staatsanwaltschaft nur randständig selbst bereichert. Lebensmittelkarten unterschlug er vor allem, um andere, insbesondere die "Gute Stube" von Brühl, den Ratskeller eben und seinen Wirt zu
retten- im Interesse des Wirtes, im Interesse der Stadtspitze, im Interesse der stadttragenden Partei, wahrscheinlich auch und besonders im Interesse seines Vorgesetzten. Wesentlicher als
Selbstversorgung scheint für das Verhängnis des Gabriel Weber die Tatsache zu sein, dass er die Bitten des Wirtes des Brühler Ratskellers Wilhelm Rösch nicht abschlagen konnte, ihm mit
seinen Möglichkeiten als Leiter des Wirtschaftsamtes zu helfen. Das hatte Gabriel Weber bis zum Zeitpunkt der Unterschlagung auch legal schon getan, indem er zusammen mit seinem Vorgesetzten
Wilhelm Pott bei der Bezirksregierung in Köln monatliche Ausnahmegenehmigungen bei der Abrechnung von Fleisch- und Fettrationen für Rösch erwirkt hat- ganz so wie es seine Aufgabe als Beamter
eben ist. Als die Ausnahmegenehmigungen nach der ersten Lebensmittelverknappung 1941 versagt werden, ist guter Rat teuer: Gabriel Weber entwickelt (mit Wilhelm Pott wie wir überzeugt sind) die
Idee, Rösch mit Lebensmittelrückläuferkarten zu versorgen und somit den Ratskeller (Versammlungslokal der Stadt-und Parteispitze) vor dem Schließen zu und seinen Besitzer vor Bestrafung zu
bewahren. Rückläuferkarten entstehen durch Todesfälle, Krankenhausaufenthalte, Urlaube, Militärdienst, nicht gemeldete Umzüge etc. und weil Personen ihre Karten schlicht nicht abholen.
Rückläufer, so denkt Gabriel Weber möglicherweise, "nehmen niemandem etwas weg" und werden eh vernichtet (durch das Wirtschaftsamt selbst). Sie sind nirgendwo gelistet, könnten aber die Bilanz
des großen Wirtsbetriebes Rösch in Wareneingang und Essensausgabe ausgleichen. Ob Weber ausschließlich Rückläuferkarten genutzt hat, bleibt in der Urteilsbegründung unklar. Rösch führt übrigens
nicht nur den Ratskeller sondern auch die Restauration "Em Höttche", die bis heute ein beliebtes Lokal in Brühl ist.
Der Ratskeller "Gute Stube" von Brühl aber auch Versammlungslokal von Partei und Stadtspitze. Wo das Unheil seinen Anfang nahm (Foto aus Archiv Neff, copyright Hans J. Rothkamp)
Versammlung der höheren Parteifunktionäre. Nebenan war ihr Versammlungslokal "Der Ratskeller"- die "Gute Stube" von Brühl. Besitzer: Wilhelm Rösch (Foto aus Archiv Neff, copyright Hans J. Rothkamp)
Marktplatz von Brühl mit Ratskeller und Westdeutscher Beobachter (Foto aus Archiv Neff, copyright Hans J. Rothkamp)
Das zweite Lokal des Wilhelm Rösch in Brühl "Em Höttche" (Foto aus Archiv Neff, copyright Hans J. Rothkamp)
Dass seine Vorgesetzten gerne zustimmend nicken, weil auch ihnen an ihrem Wohlbefinden bei Rösch (und der Existenz des Ratskellers überhaupt) sehr gelegen ist, erhöht seine Bereitschaft zur gesetzwidrigen Nutzung der Karten. Als jemand, der weiß wie es geht, betreibt er die Unterschlagung auch dann weiter, als er gar nicht mehr im Wirtschaftsamt sondern im Wohlfahrtsamt tätig ist. Dass er nebenbei auch seine Familie besser versorgen kann und allseits Anerkennung für sein Handeln findet, dass niemand ihn abhält von seinen Tun, unterstützt ihn in seinem Tunnelblick, dass es gut gehen wird. Vielleicht glaubt er sogar, auf diese Weise in Parteikreisen Zweifel an seiner staatstreuen Gesinnung wegen seines katholischen Engagements (Gemeinde, Kolping, Marienkrankenhaus, Kriegerfrauen) zerstreuen zu können. Dass ihn die Verwandten (Familie Ponsens z.B.) endlich (nach den vielen moralischen Vorbehalten seiner Person gegenüber, z.B. vorehelicher Geschlechtsverkehr und eine gewisse rheinische Lockerheit) ebenfalls mehr zu schätzen wissen, weil er sie bei seinen regelmäßigen Besuchen mit Einkaufsmöglichkeiten von reichlich Fleisch und guter Butter unterstützt, tut das Übrige dazu. Auch die Nachbarin ist froh um ein halbes Pfund Butter mehr und die gegenüberliegende Metzgersfrau Reusch um die leichten Mehreinnahmen. Ohne seine Hilfsbereitschaft und ohne seine Bedürftigkeit, wichtig und anerkannt zu sein, hätte Gabriel Weber sich nicht erpressbar gemacht- vermutlich. Sie ist der Anfang allen Unheils.
Das Desaster unzureichenden politischen Weitblicks und mangelnder Skrupellosigkeit
1935 gerät Gabriel Weber zum ersten Mal in den Blick der Staatsanwaltschaft, weil ein wegen Geldunterschlagung angeklagter und dann verurteilter
Sparkassenangestellter namens Balg ihn bezichtigt, ihn bei seinen Geldunterschlagungen im Geschäftsverkehr der Sparkasse mit der Stadt unterstützt zu haben. Gabriel Weber wird jedoch vor dem
Landgericht frei gesprochen- und lernt daraus nichts. Nach Einblick in die Personalakte wird klar, dass Weber nicht etwa wegen Mangel an Beweisen freigesprochen wird, sondern weil die
dienstlichen Ermittlungen ergeben, dass Balg ihn fälschlicherweise beschuldigt. Die von ihm behaupteten Doppelbuchungen haben tatsächlich nicht stattgefunden. Bei der Innenrevision wird
allerdings festgestellt, dass er mehrere Schulrechnungen zur Zahlung angewiesen hat, obwohl der Schulleiter sie noch nicht
gegengezeichnet hatte. Deshalb wird er dienst- disziplinarisch belangt mit einer Buße von 20,00 RM und einem zeitweisen Beförderungsverbot.
Gerade weil er unschuldig war, müsste er in dieser prekären Situation erfahren haben, wie schnell man in die Fänge der Justiz geraten kann und wie wichtig es als
Beamter ist, nicht einmal den Anschein einer Straftat aufkommen zu lassen.
Ganz offensichtlich fehlte ihm darüber hinaus jeder wirklich kritische Blick auf die politischen Zeitumstände und ihre sprunghaften Veränderungen, ein Blick, der
seinen Vorgesetzten Wilhelm Pott so auszeichnet. Dem gelingt es, andere die notwendigen Schiebereien machen zu lassen und sich selbst schadlos zu halten. Wenn stimmt, was wir vermuten, dass Pott
nach dem Krieg seine Entnazifizierung mit dem Verweis auf seine Einlassungen als Zeuge im Prozess Weber vor Gericht betrieb- dann kann man den politischen Weitblick oder die politische Ranküne
und auch seine Skrupellosigkeit erahnen. Ein Weitblick, den Gabriel Weber nicht hat- stattdessen hofft er noch an seinem Todestag, dass Pott sich statt seiner ans Messer liefern wird. Da fehlt
ihm dann nicht nur der politische sondern auch die entsprechende nüchterne Menschen- und Weltkenntnis. Pott hat sein wahrscheinlicher Meineid vor der Hinrichtung oder einer hohen Strafe bewahrt-
und hat Gabriel Weber den Tod gebracht.
Wilhelm Pott hatte das, was Gabriel Weber völlig abging: Fingerspitzengefühl für die mögliche Gefahr und Skrupellosigkeit, jemand anderen für sich bluten zu lassen. Wenigstens das hätte Gabriel aus den Ermittlungen 1935 lernen können: immer irgendetwas Verwertbares zum Nachweis der eigenen Unschuld in den Händen zu haben. So war er ausgeliefert dem, was der Vorgesetzte sagte oder eben nicht sagte. Als er dann verhaftet und vor dem Sondergericht angeklagt war, hatte er augenblicklich verfahrensbedingt keine Chance mehr, neue Beweismittel vorzubringen. Die Vereidigung des Zeugen Pott durch den Richter, fast könnte man sie als ein großes Entgegenkommen des Richters interpretieren, zu dem er nicht verpflichtet war, wüsste man nicht, wie eingehend und raffiniert diese Art von politisch brisantem Prozess gewöhnlich vorbereitet wurde.
Wie blind muss seine "Hilfsbereitschaft" ihn gemacht haben, fest davon überzeugt zu sein, das, was er tat, nicht für sich sondern für die Stadt Brühl zu tun und zu glauben, irgendjemand würde ihn wirklich schützen oder es ihm lohnen. Nach dem Krieg wird der Sohn Leo genau diese Sicht des Vaters verinnerlichen und Brühl 1960 enttäuscht verlassen. Brühl wird nicht einmal Verdienste seines Vaters um die Stadt in Erwägung ziehen, Brühl wird den Vater totschweigen. Wie weitsichtig Gabriel Weber politisch tatsächlich gewesen ist, wissen wir nicht wirklich. Insofern können wir nur Vermutungen anstellen. Aber richtig bleibt: er hätte gewarnt sein dürfen:
Gewarnt hätte er auch durch die Affäre um Schaller und Grohé sein können, in der es zwar um ganz andere Gelddimensionen ging, in der aber die Bevölkerung bereits mit dem Tod von Schaller und mindestens mit der Demission von Grohé rechnete. Vielleicht hat der "glimpfliche Ausgang" der Affäre ihn aber auch in seinem Glauben bestärkt, von oben in jedem Fall protegiert zu werden. Aber so wichtig wie Schaller und Grohé war er nun mal nicht. Tatsächlich hatte sich der Wind Ende 1941 und Anfang 1942 gedreht: in Korruption verwickelte Parteigenossen oder Beamte wurden von oben nicht mehr in jedem Fall vor strafrechtlichen Konsequenzen geschützt, jedenfalls die auf der mittleren Ebene nicht. Angesichts zu vieler Korruptionsaffären (unter denen die Schaller- und Grohéaffäre in Köln ja nur eine unter vielen war), angesichts der zunehmenden Not und dem Stimmungsumschwung in der Bevölkerung nutzte das Regime augenscheinlich jedes verfügbare Bauernopfer, um die Intaktheit der "Volksgemeinschaft" durch juristische Unerbittlichkeit zu demonstrieren und so die Stimmung der Menschen wieder zu heben. (Siehe die Ausführungen weiter unten zum zunehmenden Druck auf die Justiz durch die Unzufriedenheit in der Bevölkerung)
Die Person des Richters
Gewiss war man vor einem Sondergericht vor nichts gefeit, die Willkür in der Urteilsfindung war immens und von den unterschiedlichsten Faktoren abhängig. Gewiss haben alle Richter am Sondergericht ungerechtfertigte Todesurteile verhängt. Und doch trifft ihn in der Person des Richters Karl Eich und auch in der Person des Beisitzers Heinrich Voss wie auch in Gerits ein Richterkollegium, das bezogen auf den üblicherweise zu zahlenden Blutzoll seinesgleichen sucht. Zu Eich ist bereits an anderer Stelle das Notwendige gesagt.
Die "Einseitigkeit" im Ermittlungsbericht der Stadt Brühl
Hierzu ist Im Kapitel "Die Ermittlungen" ausreichend viel dargelegt.
Das Desaster des Zeitpunktes des Prozesses
Für einen Prozess wegen Kriegswirtschaftverbrechen gab es in den 12 Jahren der nationalsozialistischen Herrschaft keinen schlechteren Zeitpunkt, um einigermaßen
heil aus ihm heraus zu kommen, als den der Monate Januar bis September 1942, in denen die Krise der Justiz ihren Kulminationspunkt erreicht. Verschiedene Gründe sind hierfür
maßgebend:
Die sog. Unabhängigkeit des Richters ist spätestens ab 1939 weitgehend Makulatur, im Reich allgemein wie auch im Gau Köln- Aachen. Die Partei und ihre Protagonisten
von Gauleiter Grohé bis zum Reichskanzler scheuen sich nicht, auf die Justiz direkten Einfluss zu nehmen und auch und besonders indirekt Druck auszuüben, indem entweder in öffentlichen Reden oder
in der gelenkten Presse ununterbrochen Urteils- und Richterschelte betrieben wird und/oder die Karrieren einzelner Richter exemplarisch durch willkürliche Versetzungen in Frage gestellt werden.
"Vor allem von seiten der Kreisleitungen der NSDAP gingen im Frühjahr und im Sommer 1942 zahlreiche Attacken gegen die Richterschaft aus" (ANGERMUND 1990, S. 251). Adolf Hitler selbst tat sich in
der Richterschelte im Frühjahr 1942 gerne besonders hervor, ob im Tischgespräch: "Wenn Verbrecher darauf kommen, dass man bei Beraubungen von Zügen allenfalls einige Jahre Zuchthaus erhält,
sagen sie sich: Man bekommt ein geregeltes Leben, (...) braucht nicht Soldat zu werden und alles ist schön hygienisch. Kein Mensch wird einem etwas tun, dafür bürgt der Justizminister."
(zit. in THIESSEN 2011, Einleitung) oder in seiner Rede vor dem Reichstag am 26. April 1942, nicht eher ruhen zu wollen, bis auch der letzte Deutsche eingesehen hätte, "dass es eine Schande
ist, Jurist zu sein." (ebd.)
Auch damals schon scheint es für die Regierung nicht immer ganz einfach gewesen zu sein, im Justizwesen nach unten durchzuregieren. In der Lenkung der Justiz bediente sich die Regierung daher gezielt der Presse. Hier erschienen selbst noch 1942 (immerhin 9 Jahre nach Machtergreifung und Einrichtung der Sondergerichtsbarkeit) Artikel, die über die "reaktionäre" milde Justiz hetzten. Eine Justiz, die jetzt schon 10 Jahre lang durch und durch nationalsozialistisch auf Linie gebracht war. Vor allem in der SS- Zeitschrift "Das Schwarze Korps" "erschienen immer wieder Artikel, in denen der angebliche politische und soziale Unverstand der Richterschaft angeprangert und auch einzelne Richter persönlich diffamiert wurden." (ANGERMUND 1990, S.95). Bei jedem Bericht in der örtlichen Tagespresse zu einem Urteil sind hintergründig Kommentierungen zur Härte der Juristen auszumachen. Es gibt bisher keine Untersuchungen über den konkreten Ausgang von Prozessen und den möglichen Zusammenhang mit den tagesaktuellen Presseberichten. Sicher eine lohnende Untersuchung zur Unabhängigkeit der Richter.
1939 gewinnt Justizlenkung aus Berlin eine neue Qualität durch die Schaffung eines Sonderreferats im Justizministerium: "Zur Erhöhung der Schlagkraft der Strafrechtspflege" wurde im Oktober 1939 ein Sonderreferat beim Justizministerium unter Werner von Haacke eingerichtet. Es hatte die Aufgabe, die Anklageschriften in wichtigen Fällen zu kontrollieren und bei Bedarf einzugreifen (vgl. Zierenberg 2006, S. 107).
Beispiele:
Kritische Stellungnahmen zu einzelnen Urteilen sind genauso üblich wie allgemeine Weisungen an die Unterbehörden, wie folgende Beispiele zeigen:
Herrn Generalstaatsanwalt in Köln
Betr.: Rechtsprechung des Sondergerichts in Köln
Es ist seit einiger Zeit aufgefallen, daß die Rechtsprechung des Sondergerichts in Köln in Heimtückesachen und bei Verstößen gegen die Verordnung über außerordentliche Rundfunkmaßnahmen besonders milde ist.
In einer großen Anzahl von Sachen sind die Urteile auch bereits von Ihnen, Herr Generalstaatsanwalt, als zu milde bezeichnet worden, beispielsweise in den Sachen 1 SMs 11/40, 16/40, 17/40, 20/40, 24/40, 28/40, 30/40, 31 /40, 30 SMs 3/40, 10/40, 12/40, 17/40, 18/40 und 31 SMs 19/40 der StA beim Sondergericht.
Da insbesondere in der Kriegszeit ein scharfes Vorgehen gegen Staatsfeinde und gegen Personen, die gegen die zur Sicherung der Kriegsführung getroffenen Maßnahmen verstoßen, eine staatspolitische Notwendigkeit ist, bitte ich Sie, Herr Generalstaatsanwalt, sich mit dem Herrn Oberlandesgerichtspräsidenten in Verbindung zu setzen, damit eine den staatspolitischen Notwendigkeiten entsprechende Rechtsprechung gewährleistetwird, notfalls durch eine Umbesetzung des Gerichts.
Ich bitte, die Rechtsprechung des Sondergerichts in Köln weiterhin zu verfolgen und mir über das Ergebnis Ihrer Rücksprache zu berichten.
Im Auftrag
gez. Dr. Chrohne
Quelle: HStA Düsseldorf, Rep 11/1812, zit. in: Im Namen des deutschen Volkes, S. 292
Wer mit der amtlichen Sprache der Behörden ansatzweise vertraut ist, kann unschwer entnehmen, dass das Ministerium mit seiner Geduld bald am Ende ist. Die Drohung einer Umbesetzung des Gerichtes ist unverhohlen und setzt auch den Generalstaatsanwalt persönlich erheblich unter Druck. Die Maßnahme selbst lässt die Unabhängigkeit des Richters formal unangetastet. Er bleibt in seiner Entscheidung frei, muss aber gegebenenfalls die Konsequenzen tragen. Auch damals schon gerne genommen die Begründung des Vorgehens als schlichte "staatspolitische Notwendigkeit" und damit als alternativlos.
Chef der Sicherheitspolizei
und des SD
B.Nr.IV-437/41 geheim
Berlin, den 19. Mai 1941
Als Geheim
an alle Staatspolizei(leit)stellen
an alle Kripo(leit)stellen
an alle SD -Leit- Abschnitte
nachrichtlich
an die Höheren SS- und Polizeiführer
an die Befehlshaber und Inspekteure der Sicher-
heitspolizei und des SD
Betrifft:
Sonderfälle,
1 Anlage
Oftmals entsprechen Gerichtsurteile insbesondere gegen Gewaltverbrecher aus den verschiedensten Gründen nicht dem gesunden Volksempfinden.
Ich ordne daher folgendes an:
In allen Fällen, in denen das Gericht statt auf eine erwartete und auch gebotene Todesstrafe lediglich auf mehrjährige oder lebenslange Freiheitsstrafe erkennt, ist mir mittels Schnellbrief zu berichten. ...
Es ist nicht Sinn und Zweck dieses Erlasses, vor der Berichterstattung noch umfangreiche Ermittlungen zu pflegen. Das im Zuge der Aufklärung der Straftat zustandegekommene Ergebnis genügt für diese Berichterstattung. ...
Ich mache ausdrücklich darauf aufmerksam, dass von diesem Erlass keiner dritten Stelle gegenüber irgend etwas erwähnt werden darf. Für die Einhaltung dieser besonderen Verpflichtung mache ich die Leiter der Dienststellen persönlich verantwortlich.
Ich erwarte, dass sich die Leiter der Dienststellen bzw. deren beauftragte Vertreter dieser berichtserstattung vorwiegend, wenn nicht ausschließlich, annehmen.
gez. Heydrich
Beglaubigt:
Unterschrift
Reg. Sekretärin
Quelle: HStA Düsseldorf, RW 34/13 zit. in: Im Namen des deutschen Volkes, S. 252
Ihrem Lagebericht vom 1. September 1941 entnehme ich, daß viele Richter glauben, die hohen Strafen, die von maßgebender Stelle erwartet werden, nicht vor ihrem Gewissen verantworten zu können.
Demgegenüber muß ich darauf hinweisen, daß nach meinen Beobachtungen die Richter in den anderen Bezirken Verständnis für die Bedürfnisse und Notwendigkeiten des Krieges zeigen und Strafen verhängen, die dem Schutzzweck des Strafrechts gerecht werden. Ich spreche die Erwartung aus, daß es Ihnen als dem Führer der Richterschaft Ihres Bezirkes gelingen wird, dasselbe Verständnis auch bei den Richtern Ihres Bezirks zu wecken.
Heil Hitler Ihr
(Unterschrift)
Diese Art der Beeinflussung wirkt möglicherweise sogar eher als die groben Angriffe aus der Partei. Sie wird von den Richtern überwiegend klaglos akzeptiert und sofort umgesetzt, wie das Ansteigen von Höchststrafen gegen Bibelforscher (Zeugen Jehovas), Zuchthausstrafen gegen »Rassenschänder« unmittelbar nach den jeweiligen Interventionen des Ministeriums zeigt.
Die Parteikanzlei (Martin Bormann) wurde übrigens "vom SD ständig über 'Fehlleistungen' der Gerichte informiert und leitete dessen Beschwerden - nach Prüfung durch Bormanns Rechtsexperten Herbert Klemm - mit der Bitte um baldige 'Korrektur' an das Reichsjustizministerium weiter."(ANGERMUND 1990, S. 235)
Für Köln speziell gilt: Funk und Murhard, vorsitzende Sonderrichter, stehen im Juni 1942 wegen verschiedener zu milder Urteile erheblich unter Beschuss aus Berlin
und aus der Führungsetage des Landgerichts. Ein vorsitzender Richter bildet die leuchtende Ausnahme: Carl Eich.
Auf der örtlichen Ebene veranstaltete der Landgerichts- Präsident Müller, im vorauseilenden Gehorsam bereits 1939 frühzeitig schon vor den entsprechenden Direktiven von oben "mit seinen Untergebenen zur Erörterung anstehender Entscheidungen Richterbesprechungen, an die sich ein geselliger Bierabend auf seine Rechnung anschloss. Besonders nach Hitlers Reichstagsrede vom 26. April 1942 ... verschärfte der Präsident seine Kritik an unliebsamen Urteilen. Alle Urteilsbesprechungen erfolgten ohne Namensnennung der Richter, doch war den betroffenen Kammermitgliedern sogleich ersichtlich, um wen es sich handelte. Eine Gelegenheit zur Rechtfertigung war somit ausgeschlossen. “ berichtet der konservative Haus- Chronist des Landgerichts Adolf Klein in der Rückschau 1981.
Neben Lenkung durch Weisungen von oben, neben Druck durch Partei und Presse tritt Lenkung durch verpflichtende Fortbildung mittels Richtertagungen.
Auf einer solchen Tagung aller Richter und Staatsanwälte an Sondergerichten im Reich, die am 30. Januar 1942 in Köln stattfindet, formuliert übrigens derselbe Herr Eich, Vorsitzender des Sondergerichts I in Köln (und Richter von Gabriel Weber), sein Programm, über das der Westdeutsche Beobachter enthusiastisch berichtet: "Der Vorsitzende des Kölner Sondergerichts, Landgerichtsdirektor Eich, nahm im Hauptreferat grundsätzlich zur Frage der Strafzumessung in Sondergerichtssachen Stellung. Die 'Standgerichte der Heimat' müssten, getreu den Weisungen des Obersten Gerichtsherrn, des Führers, jeden Störer des Rechtsfriedens und der inneren Front schnell und hart schlagen und notfalls aus der Volksgemeinschaft ausmerzen." (Westdeutscher Beobachter, zit. BOTHIEN 2012, S.58) Karl Eich hat sich übrigens gerade zum Volksgerichtshof nach Berlin beworben. Die Rede ist seine Chance, sich vor den Herren Schlegelberger und dem gleichfalls anwesenden Justizstaatssekretär Roland Freisler hervorzutun. Über die Tagung wurde in der Presse entsprechend ausführlich berichtet.
Die eigene Rede wird Herrn Eich wohl selbst auch heftig unter Druck gesetzt haben: seine Urteile fallen ab Januar 1942 noch härter aus als sie es bis
dahin schon taten.
Eine weitere Nebenwirkung der Tagung bzw. der Presseberichte über die Tagung besteht darin, dass in der Kölner Bevölkerung noch mehr als bisher nach Niederschlagung der sog. Schaller- Affäre unter dem Motto gelästert wird: "Die Kleinen hängt man, die Großen lässt man laufen." Wir wissen das aus einem erhaltenen Schreiben des SD, der entsprechend nach Berlin berichtet
Von diesen Pressseberichten scheint besonders der folgende Vorgang im Frühjahr 1942 beeinflusst worden zu sein: Da berichtet nämlich die Kölner Justizpressestelle dem Oberstaatsanwalt Meißner von einem anonymen Schreiben an Herrn Eich, in dem sich Kenntnisse um konkrete Straftaten mischen mit entsprechenden
Drohungen, hohe Tiere auffliegen zu lassen (und das kurz nach der Beilegung der Schaller- Affäre!).
Das Schreiben der Justizpressestelle:
“In der Gaupresse ist vor einigen Tagen eine Notiz der Justizpressestelle über die Tagung der Richter und Staatsanwälte bei den Sondergerichten veröffentlicht worden. Darin heißt es u.a.: ,Der Vorsitzende des Kölner Sondergerichts, Landgerichtsdirektor Eich, nahm im Hauptreferat grundsätzlich zur Frage der Strafzumessung in Sondergerichtssachen Stellung [unleserlich]. Die »Standgerichte der Heimat« müssten, gemäß den Weisungen des Obersten Gerichtsherrn, des Führers, jeden Störer des Rechtsfriedens und der inneren Front schnell und hart schlagen und notfalls aus der Volksgemeinschaft ausmerzen [überschrieben].
Ein anonymer Schreiber hat diese Sätze aus einer Zeitung auf eine Postkarte geklebt, die in Bonn - am 2.2.42., 15 Uhr, - abgestempelt und an den Vorsitzenden des Kölner Sondergerichts Herrn Landgerichtsdirektor Eich, Köln a/Rh., gerichtet ist. Im Anschluß an den aufgeklebten Zeitungsausschnitt ist dann auf der Postkarte folgendes mit Tinte geschrieben: ,Da lachen ja die Hühner. Doch nicht- denn hinter dem Wort Störer muss eingeschaltet werden: aus den mittleren und unteren Volksschichten. An die oberen 10.000, Bonzen und deutsche Plutokraten wagt sich keiner heran, denn für diese gibt es keine Strafe. Dieses sieht man an der Schwarzschlächterei in der landwirtschaftlichen Hochschule Bonn (…) Wir sehen uns die Sache noch etwas an. Kommt nicht bald die Verhandlung, dann werden wir auch Schwarzschlächter. Das Gericht, das uns was tun will, möchten wir dann mal gerne sehen. Vielleicht bekommen wir dann alle besser bezahlte Posten durch die Partei. Je größer die Schandtat, desto besser die Stellung.
Mehrere angehende Schwarzschlächter‘ (…)
Der Leiter der Justizpressestelle (LG-Rat Thomas)“
(HStAD Rep. 112- 18 113.)Zit. Zierenberg, S. 192
Der Brief löste augenscheinlich erhebliche Unruhe aus und wurde so ernst genommen, dass sofort der Oberstaatsanwalt informiert wurde. Der Glaube, nur der „Kleine Mann“ müsse die Sondergerichte fürchten, war in der Bevölkerung weit verbreitet- und kaum etwas schien schädlicher als ein solches Gerücht. Um dem Eindruck der Bevölkerung, die "hohen Tiere" seien vor Strafverfolgung geschützt, entgegen zu steuern, schien es der Regierung angezeigt, zur Beruhigung der Bevölkerung die Justiz öffentlich noch mehr unter Druck zu setzen und so Signal zu setzen, dass man jede Korruption unerbittlich verfolge. Das änderte grundsätzlich nichts daran, dass die "Obere Etage" der Mächtigen von strafrechtlicher Verfolgung ausschlossen war. BAJOHR kommt in der auf das gesamte Reich bezogenen Analyse von Korruption und rechtlicher Verfolgung von Korruption zum Schluss: "Anklagen wegen Korruption hatten nur diejenigen zu gewärtigen, die in die Schusslinie regimeinterner Machtkämpfe geraten waren, aus Sicht ihrer Förderer und Protektoren jegliche Nützlichkeit verloren hatten... (2004, S. 151) "Strafvereitelung im Amt"- so BAJOHR- sei als "selbstverständliche Fürsorgepflicht" verstanden worden (S. 152). BAJOHR hebt dann besonders auf 1942 ab: "Seit Frühjahr 1942 entwickelte sich eine Erwartungshaltung, die eine demonstrative Reaktion verlangte und durch ein symbolisches Bauernopfer befriedigt werden sollte."(S. 166) BAJOHR zeigt dieses Vorgehen eindrucksvoll an den Fällen
die alle wegen Kriegswirtschaftsverbrechen hingerichtet wurden (S. 171) und der mittleren Ebene angehören. Die führenden Repräsentanten des Reichs aber (nämlich Reichsminister Frick, Rust, von Ribbentrop und Darré und andere), die als Abnehmer von Lebensmitteln ohne Karten ins Visier der Staatsanwaltschaft gerieten, konnten auf ihren Führer vertrauen: Hitler reagierte, als er von den Ermittlungen gegen sie erfuhr, prompt mit dem Satz, ein solcher Prozess "komme keinesfalls in Frage" (S.171). BAJOHR fasst zusammen: "Erneut hatte sich in diesem Verfahren gezeigt, dass die Führung des Regimes einen Sonderstatus genoss, der sie auch bei nachgewiesener Korruption vor strafrechtlichen Konsequenzen schützte. Was sich seit 1942 im Vergleich zu den Jahren zuvor aber deutlich geändert hatte, war die Bereitschaft, Funktionäre der zweiten Garnitur der wachsenden Missstimmung in der Bevölkerung als Opfer anzubieten". (S. 174) Beliebter noch als Parteifunktionäre waren Bauernopfer aus der unteren oder mittleren Beamtenschaft: "Die Strafverfolgung von Korruption im "Dritten Reich" zeichnet sich in erster Linie durch Willkür und Beliebigkeit aus. Während manche "Hoheitsträger" auf Grund ihrer Stellung und politischer Protektion Narrenfreiheit genossen, sahen sich subalterne Beamte mit drastischen Disziplinarmaßnahmen konfrontiert". (BAJOHR 2004, S. 191)
Für Köln direkt zieht RÜTHER aus der sog. Schalleraffäre die Schlusfolgerung: "Im Januar 1942 sah man sich daher seitens der NSDAP veranlasst, weitere
Verurteilungen zur öffentlichen Abschreckung zu instrumentalisieren. Das Image der Kölner NSDAP war nachhaltig angeschlagen...Der Generalstaatsanwalt jedenfalls schätzte das Vertrauen in Partei
und Justiz - gerade angesichts der Entbehrungen des Winters- durch die diversen Affären als stark belastet ein." (Lagebericht des Generalstaatsanwalts vom 4.2.1942, RÜTHER 2005, S.
123)
ZIERENBERG verweist auf einen weiteren Aspekt, warum einzelne Urteile so überhart (auch im Vergleich zu Urteilen in ähnlichen Sachverhalten) ausfallen:
"Die Verurteilung eines relativ repräsentativen Teils der Bevölkerung war wichtig für die Akzeptanz der Sondergerichtspraxis. Als
Signalgeber im öffentlichen Raum wirkte das Sondergericht im Dienste der Volksgemeinschaftsideologie abschreckend. Das propagierte Gerechtigkeitskriterium, das der Idee von der
,,Volksgemeinschaft" zu Grunde lag, fiel dabei aber nicht selten auf die Institution des Sondergerichts selbst zurück, wenn der Eindruck entstand, dass einzelne Personengruppen kaum oder gar
nicht zur Aburteilung gelangten. Die zu Disziplinierungszwecken verwandte Parole von der ,,Volksgemeinschaft" wurde von Seiten der Bevölkerung auch als kritischer Maßstab an die Gerichtspraxis
angelegt. Dabei richtete sich die Kritik allerdings nicht dagegen, dass einzelne Berufsgruppen besonders betroffen zu sein schienen. Vielmehr ging es um die wahrgenommene Ungleichbehandlung von
,,einfachen Kölnerinnen und Kölnern" im Vergleich zu wohlhabenden oder politisch einflussreichen Personen. Reale oder vermeintliche Rücksichtnahmen auf ,,höher gestellte Persönlichkeiten" waren
geeignet, den Glauben an die staatliche Institution zu untergraben und den Rechtsgewaltanspruch des Staates in Frage zu stellen." (S. 121)
"Obwohl die Praxis des Kölner Sondergerichts von Teilen der Bevölkerung kritisiert wurde, trug sie doch erheblich dazu bei, die infolge der Versorgungsprobleme gefährdete nationalsozialistische Herrschaft zu stabilisieren und durchzusetzen. Quantifizieren lässt sich dies nicht, doch sollte man - abgesehen von der Strafverfolgungsfunktion - die Wirkung nicht unterschätzen, die einzelne Urteile als ,,reinigendes Gewitter" haben konnten, um die auch in der Bevölkerung weit verbreitete Empörung über illegale ,,Schiebungen" zu kanalisieren und damit für das Regime nutzbar zu machen.
Zusammenfassend lässt sich damit sagen, dass die Zunahme offener staatlicher Machtanwendung zum Teil als Reaktion auf die im Zuge der Kriegsentwicklung sich verschlechtemde Lage an der ,,Heimatfront" erfolgte." (S.122)
Berüchtigt ist in diesem Zusammenhang die Rede von Adolf Hitler vor dem Deutschen Reichstag vom 26. April 1942, in der Hitler Konsequenzen androhte für alle Richter, die seinen Weg nicht mit aller Entschlossenheit mitgehen: "Ich bitte deshalb den deutschen Reichtstag um die ausdrückliche Bestätigung, dass ich das gesetzliche Recht besitze, jeden zur Erfüllung seiner Pflichten anzuhalten, beziehungsweise denjenigen, der seine Pflichten nach meiner Ansicht und gewissenhaften Einsicht nicht erfüllt, entweder zur gemeinsamen Kassation zu verurteilen oder ihn aus Amt und Stellung zu entfernen, wer er auch sei oder welche erworbenen rechte er besitze.... Ich werde von jetzt ab in diesen Fällen eingreifen und Richter, die ersichtlich das Gebot der Stunde nicht erkennen, ihres Amtes entheben." (zit. BOTHIEN 2012, S.70)
Die Richter der Kölner Sondergerichte waren alle verpflichtet worden, sich zur gemeinschaftlichen Anhörung der Rede im Gerichtsgebäude einzufinden. In seinem Bericht an den Justizminister des Reiches hält der Oberlandesgerichtspräsident die Reaktion der Richter fest, und berichtet von tiefer Niedergeschlagenheit und räumt gleich ein, "dass die Rechtsprechung hier und da zu wünschen übrig gelassen habe. Die Zeichen der Zeit seien aber verstanden worden und in aller Regel würde die gebotende Härte auch angewendet." (BOTHIEN 2012, S. 71) Ein beschämendes Zeugnis für die sog. Unabhängigkeit der Richter und ein warnendes Signal an alle, die mit diesen Richtern noch zu tun bekommen.
Spätestens ab dieser Rede gehörte die "nationalsozialistische Reform" der Justiz zu den vordringlichen Anliegen von Hitler. In einer offensichtlich von Hitler autorisierten Rede Goebbels vor Beamten des Volksgerichtshofs stellte Goebbels am 22. Juli noch einmal unmissverständlich klar, was Hitler von der Justiz erwarte: es sei unwichtig, ob "ein Urteil gerecht oder ungerecht" sei, vielmehr habe es den Staat zu schützen, indem es "die inneren Feinde ausmerze". "Es sei nicht vom Gesetz auszugehen", so ein interner Bericht des Reichsjustizministeriums über diese Rede, "sondern vom Entschluss, der Mann müsse weg." (WACHSMANN 2004, S. 222) (Nebenbemerkung: dass die bundesdeutsche Justiz diese Urteile trotz dieser vorliegenden Aussagen bis in dieses Jahrtausend hinein nicht als Unrechtsurteile aufheben konnte, dafür fehlen alle Worte)
Die Person, die diese Reform ins Werk setzte und die Rechtsprechung noch stärker an den Wünschen der NS- Führung ausrichten sollte, fand Hitler im Präsidenten des Volksgerichtshofes Otto- Georg Thierack. Thierack wurde - Ironie der Geschichte- ausgerechnet am Tage der Hinrichtung von Gabriel Weber, am 20. August 1942 in sein Amt als Reichsjustizminister feierlich eingeführt. Die "Krise der Justiz" hatte mit der Amtseinführung Thieracks ihren Höhepunkt und ein erstes Ende gefunden.
Hitler empfängt die neuen Herren des Justizministeriums: Staatssekretär Curt Rothenberger und Minister Otto Georg Thierack (Mitte) am Tag ihrer Ernennung am 20. August 1942
Tatsächlich scheint Hitler selbst die Wende 1941/42 (Stalingrad!) als nationale Krise wahrgenommen zu haben und kommt in Unterredungen mit führenden Nationalsozialisten und ausländischen Staatsmännern immer wieder darauf zu sprechen, ein zweites 1918 verhindern zu wollen. Dazu sei es notwendig, "Gesindel", "Ratten" und "asoziale Schädlinge" an der Heeimatfront zu "vernichten", "auszumerzen", zu "exekutieren", "totzuschlagen", zu "erschießen" oder zu "liquidieren", so in seiner Rede vor Reichsleitern und Gauleitern der NSDAP in der Reichskanzlei am 23. Mai 1942. (vgl. WACHSMANN 2004, S. 217)
Im Winter 1941/ 1942 sieht sich das Regime zum ersten Mal enormem Legitimationsdruck ausgesetzt:
Die Bombenangriffe auf die Städte nehmen ab Frühjahr 1942 enorm zu, Köln hat Anfang Juni 1942 den großen 1000- Bomberangriff zu überstehen. Die Justiz, vor allem
die Sondergerichte reagieren auf Verstöße gegen die Kriegswirtschaftsverordnung und auf sonstige Eigentumsdelikte sofort mit empfindlichen Strafen. In der Begründung der harten Urteile spielt die
Volksschädlingsverordnung eine entscheidende Rolle. Das Landgericht Köln erweitert die Zahl der Sondergerichte am 1. Juni von zwei auf vier.
BOTHIEN bestätigt in seiner Analyse der Todesurteile einen engen Zusammenhang zwischen dem ersten vernichtenden Bombenteppich auf Köln mit 469 Toten am 1. Juni und der direkten Zunahme unerbittlicher Urteile am Sondergericht in Köln. Am Beispiel der zweiseitigen (!) Anklageschrift gegen die 46jährige bisher unbescholtene Näherin Paula Wöhler, die nach der Zerstörung der eigenen Wohnung Kleinigkeiten aus der Nachbarwohnung (einige Herrenunterhosen, Gardinen, ein Kleid sowie drei Dosen Kaffee) an sich nimmt, zeigt er beispielhaft, wie der Landgerichtsdirektor Funk (Sondergericht 2) bereits am 2. Juni innerhalb von ca. 4 Stunden Verhandlungsdauer das Todesurteil fällt. Er glaubt an diesem Urteil klar zeigen zu können, wie die verbreitete Richterschelte bereits im Juni ihre verheerende Wirkung entfaltet hat und wie diese Wirkung sich durch die Ausnahmesituation des "Bombenterrors" vervielfacht hat. (BOTHIEN S.71 ff.) Er schreibt: "Die Kriegssituation in Köln eskalierte zunehmend. Mit ihr stieg nach und nach die Kriminalität, insbesondere die Eigentumsdelikte. Harte Urteile sollten abschrecken, aber die NS-Ideologen wollten mehr. Tausende von guten deutschen Soldaten verbluteten an den Fronten, während gemeine Kriminelle die Heimatfront unsicher machten. Wieso sollte man sie jahrelang in den Zuchthäusern durchfüttem? Todesurteile oder „Vernichtung durch Arbeit in den KZs“, so lautete nicht nur Hitlers Devise. Für jenes sollten die Richter sorgen, für dieses Himmlers Reichssicherheitshauptamt."
Als der Oberstaatsanwalt Meissner Montag nach dem Bombenangriff bekannt gibt, der erste Fall von Plünderung sei verhandlungsbereit, erklärt der Präsident des Kölner Landgerichts Müller während der Vorbesprechung wörtlich: " Meine Herren, da gibt es nur eine Parole, ein Standardurteil, Kopf ab." (FRIEDRICH 1983, S. 240)
RÜTHER beschreibt eingehend das Desaster nach dem 1000- Bomberangriff und fasst das Vorgehen der Justiz folgendermaßen zusammmen: "Nach dem '1000- Bomber- Angriff' gab es für vergleichsweise geringfügige Delikte hohe Zuchthausstrafen; gleichzeitig stieg die Zahl der Verfahren und Aburteilungen auf eine solche Höhe, dass die Kölner Staatsanwaltschaft dazu überging, hektografierte Formblätter für die Anklageschrift einzuführen." (S. 212) Das eingesetzte Instrumentarium von harten Strafen, so RÜTHER, habe offensichtlich auch seinen Zweck erreicht, so dass ein Mann, der zu Unrecht Fliegerentschädigung erhalten hatte, diese von sich aus Angst vor Strafe zurückgab, was ihn nicht davor bewahrte, diese Tat mit drei Jahren Zuchthaus zu bezahlen. "Die Sondergerichte arbeiteten aber nicht nur unmittelbar nach dem Angriff mit hoher Intensität, sondern setzten das gesamte 2. Halbjahr über ihre im Januar festgelegte harte Linie als "Standgerichte der Heimat" konsequent in die Tat um.
Die Zahl der Todesurteile wird 1942 fast doppelt so hoch sein wie im Vorjahr. Kennzeichnend war dabei nicht nur die Härte ihrer Urteile sondern auch die Zweifelhaftigkeit der 'Gutachten', auf deren Grundlage angeblich 'wertlose Elemente' aus der 'Volksgemeinschaft' ausgesondert und Todesurteile verhängt wurden." (S. 213) So stützten sich die Richter dabei besonders auf die in der Regel vernichtenden Gutachten ("gehört zum Typ des Volksschädlings") des berüchtigten Gefängnisarztes im Klingelpütz Medizinalrat Dr. Kapp.
Ab dem "1000 Bomber- Angriff" auf Köln mussten sich die Richter der Sondergerichte Köln in einem Bereitschaftsdienst bereithalten, der noch in der jeweiligen Bombennacht agieren musste (Personalakte Müller, S. 20). FRIEDRICH schreibt dazu: "Am Samstag/Sonntag waren die Angriffe auf Köln niedergegangen, am Montagfrüh wurden die Sonderkammern gebildet, zur Bereitschaft eingeteilt, und nun warteten sie im Beratungslokal am Appellhofplatz, ob eine Anklage eingehen werde. Am Nachmittag erschien der Oberstaatsanwalt Meissner und berichtete, dass die erste Sache verhandlungsbereit sei: Eine Frau, die aus der Habe einer ausgebombten Familie einige Damenstrümpfe und andere Kleinigkeiten entwendet habe. "Meine Herren" erklärte der anwesende Präsident (Müller), "da gibt es nur eine Parole, ein Standardurteil, Kopf ab." (FRIEDRICH 1983, S. 240) Die Richter stöhnten erheblich unter dieser zusätzlichen Belastung wie BOTHIEN am Beispiel von Landgerichtsdirektor Heinrich Funk gut zeigen kann. Aber auch emotional stieg die Belastung kontinuierlich. Die Furcht, Sicherheit und Ordnung könnten angesichts der Zerstörungen und des jeweiligen Ausbruchs von Chaos nicht mehr aufrechterhalten werden, war nicht nur eine Furcht um das politische Überleben des Systems sondern auch eine sehr persönliche- um das eigene Hab und Gut (wie aus Briefen von Heinrich Funk, Richter am Sondergericht II hervorgeht). Beides führte nach dem 1. Juni wohl dazu, mit äußerst harten Strafen gegen jedes Eigentumsdelikt vorzugehen.
Am Sondergericht Köln ging man dazu über, weniger "juristisch" als "praktisch" zu agieren. So treffend formulierte es jedenfalls Karl Eich (siehe OLG- Präs. Köln vom 1.5.1942, BA R 22/3374). "Praktisch" arbeiten bedeutete, noch weniger die Besonderheiten und Umstände des einzelnen Falles zu berücksichtigen und sich im Strafmaß noch stärker am Schutz der "Inneren Front" zu orientieren. Nach Bombennächten erhöhte sich die Zahl der Todesurteile sprunghaft bei allen Richtern.
Zusammengefasst lässt sich sagen: Für den Prozess gegen Gabriel Weber konnte es kaum einen schlechteren Zeitraum geben als den von Juni und Juli 1942. Reichsweit schnellte die Zahl der Todesurteile von 129 im April 1942 auf 233 im Juni 1942. (WACHSMANN 2004, S. 230) Es gibt also gute Gründe anzunehmen, dass derselbe Prozess wenige Monate vorher oder aber bei einem anderen Richter zu einem ganz anderen Urteil geführt hätte.
Hinweis
In der Tat fallen in den Zeitraum um die Verurteilung von Gabriel Weber auffallend harte Urteile aller Sondergerichtskammern. Extrem viele Todesurteile fällt der Richter Eich genau zu dieser Zeit gemeinsam mit dem Beisitzer Voss:
Genaue Untersuchungen zu solchen Häufungen besonders scharfer Urteile am Sondergericht Köln in bestimmten Zeiträumen liegen bisher leider nicht vor. Das Urteil gegen Gabriel Weber selbst findet in der Litaratur bisher nur am Rande Erwähnung- weil es bis Februar 2015 als verschollen galt.
Wie enorm die Todesurteile nicht nur in Köln sondern reichsweit zunahmen, geht auch daraus hervor, dass im Juni 1942 das Reichjustizministerium erste Maßnahmen ergreifen musste, um die Hinrichtungen zu beschleunigen. So stieg ab Juni 1942 die Zahl der Hinrichtungsstätten von 11 auf 23 in 1945. Zur Beschleunigung der Verfahren wurden verschiedene Hinrichtungsrituale aufgegeben. (WACHSMANN 2004, S.342) Die Exekution durfte jetzt zu jeder Tageszeit vorgenommen werden- nicht nur in der Morgendämmerung. Gabriel Weber "profitierte" davon und wurde Donnerstag- Abend um 19.30 hingerichtet.
Warum es zu einem Ermittlungsverfahren gekommen ist, war bis zur Einsicht in die Personalakte nicht aufzuklären. Die Vermutung war schlicht, dass es einen direkten
Denunzianten gegeben haben musste. Tatsächlich ist die Verhaftung schlichtes Ergebnis einer Hausdurchsuchung im Anschluss an eine interne behördliche Überprüfung der Lebensmittelkartenausgabe in Brühl- Heide. Dr. Josef Effertz, der die Untersuchung leitete, konnte beweisen, dass die Unterschlagung der
Karten nicht auf ihre Unterschlagung durch die örtliche Ausgabenstelle in Brühl- Heide beruhte, sondern dass die Karten bei der "Zentrale" in der Stadtverwaltung "verloren" gingen. Siehe
Näheres unter "Ermittlungen der Stadt Brühl".
Eine Hausdurchsuchung bei Familie Weber in der Mühlenstraße 79 fand am 18.03.1042 statt. Anwesend waren von der Kriminalpolizei Herr Kriminalobermeister Blessmann,
von der Gestapo ein unbekannter Herr, dazu auch der Ortsgruppenleiter (!) der NSDAP in Brühl Gottlieb Rösing. Die Hausdurchsuchung belastet und
ängstigt die Kinder sehr. Dass sie später zweimal von der Gestapo verhört wurden, noch mehr.
Herr Weber wird unmittelbar nach der Hausdurchsuchung im Rathaus festgenommen und im Gerichtsgefängnis Liblarer Straße
inhaftiert.
In der erhalten gebliebenen Ermittlungsakte gegen Maria Weber findet sich eine Abschrift der Seiten 85- 87 aus der Ermittlungsakte gegen ihren Mann Gabriel. Demnach wird Maria Weber bereits am 20. März 1942 vom Amtsgericht Brühl vorgeladen und vom Kriminaloberassistenten Freese verhört. Sie gibt dort zu Protokoll, davon gewusst zu haben, dass ihr Mann Lebensmittelkarten hinterzogen hat und dass sie selbst in der Metzgerei Reusch deshalb mehr einkaufen konnte, weil ihr Mann Karten an die Metzgerei abgegeben hat. Sie gesteht auch die Weitergabe von Fleischwaren an ihre Schwester Irma Ponsens (alle 4 bis 6 Wochen) und ihre Schwägerin Elisabeth Böcking wie auch an Hausmitbewohnerin Elisabeth Horbach, geb. Heiligers. Entschieden streitet sie ab, dass sie selbst oder ihr Mann Fleisch- oder Fettkarten gegen andere Waren oder Geld eingetauscht habe.
"Ehefrau Martin Horbach", Elisabeth Heilgers (23 Jahre alt, 1 zweijähriges Kind) wird am 21. März verhört und gesteht die Annahme von wöchentlich einem Kotelett und einem halben Pfund Butter gegen Bezahlung des ladenüblichen Preises. Frau Weber habe ihr gegenüber gesagt, sie könne die entsprechende Fleisch- und Fettmenge in ihrem Haushalt erübrigen, die Kinder seien schlechte Esser. Es sei ihr niemals eingefallen, an dieser Tatsache zu zweifeln.
Eine rechtsanwaltliche Vertretung der Ehefrau Maria wird zum Zeitpunkt ihrer Aussagen beim Amtsgericht Brühl 1942 nicht erwähnt. Für
ihren eigenen Prozess ein Jahr später ist eine Vollmacht für Dr. Carl Becker als Anwalt dokumentiert.
Die kriminalpolizeiliche Untersuchung, vorwiegend durch den Beamten Freese und Blessmann geführt, erfolgt ausgesprochen gründlich und unaufgeregt, fast ist man geneigt zu sagen, sie sei respektvoll erfolgt Jede sich widersprechende Äußerung wird zum Anlass auch wiederholter Gegenüberstellungen genommen. Man möchte meinen, so und nicht anders haben geschulte Kriminalbeamte zu ermitteln. An keiner Stelle irgendwelche kruden Vermutungen, Vorwürfe oder andere Hinweise auf ein nicht rechtsstaatliches Vorgehen, gar Handgreiflichkeiten oder selbstherrliche Nebenermittlungen.
Verwunderlich einzig, dass die Schwestern des Marienkrankenhauses aus den Befragungen ganz herausgehalten werden, obwohl es in den Befragungen einen Hinweis gibt, dass Gabriel Weber auch hier mit Karten, zumindest sog. Reisekarten unterstützend tätig war.
Typisch für die Zeit, dass die Kriminalbeamten auf Anweisung von oben (Landrat) und in enger Abstimmung mit Effertz arbeiten. So werden weder Effertz noch
Bürgermeister Pick überhaupt als Verdächtige in Betracht gezogen werden, obwohl beide Personen ja direkten Zugriff auf Karten hatten. Hiermit soll allerdings nicht gesagt sein, dass z.B. Effertz
selber Täter gewesen sei - aber selbstverständlich war er ein möglicher Täter und wäre bei einer selbständigen rechtsstaatlichen Ermittlung auch im Fokus der Ermittler.
Die kriminalpolizeilichen Ermittlungen nach der Verhaftung erwecken selbst jedenfalls den Eindruck absoluter Rechtsstaatlichkeit, die internen Ermittlungen des Dr.
Effertz tun das auf den ersten Blick auch, auf den zweiten Blick zeigen sie aber in der Ausblendung von möglichen Tätern und bestimmter Tatgründen auch ihre Einseitigkeit und ihre
Aufmerksamkeitslenkung, vorsichtig ausgedrückt. Tatsache bleibt, dass erst die Staatsanwaltschaft aus dem vorliegenden Material schließlich ein monströses Verbrechen konstruiert, das nur mit dem
Tode bestraft werden kann. Die interne Ermittlung durch Effertz wird von diesem schnell zu örtlichen kriminalpolizeilichen Ermittlungen ausgeweitet, diese ergeben schließlich einen Tatvorwurf,
der zwingend zur weiteren Strafverfolgung durch den Oberstaatsanwalt in Köln führt.
Über die Strafverfahren gegen die anderen Beteiligten wird im Zusammenhang mit dem Todesurteil gegen Weber Näheres berichtet. Alle Beteiligten werden zu extrem hohen Haftstrafen verurteilt. Beispielhaft die Zuchthausstrafen für Herrn Fuchs und Maria Weber, die Ehefrau.
Wünschenswert wäre, auch um das weitere Schicksal der anderen Beschuldigten zu wissen. Von besonderem Interesse in diesem Zusammenhang sicher die Einsichtnahme in die Akte Frau Gruschke und Frau Döring, denen während der Ermittlungen erhebliche Unterschlagungen zum Vorwurf gemacht wurden und die wahrscheinlich zu einer langjährigen Zuchthausstrafe verurteilt wurden, die sie möglicherweise auch nicht überlebt haben.
Noch als Gabriel Weber im städtischen Arrest im Amtsgericht Brühl (18.03.1942 bis 08.06. 1942) einsitzt, ist er der festen Überzeugung, dass ihm nichts passieren könne. Die Leute vom Amtsgericht kennt er gut, zwischendurch sitzt er gar im Wohnzimmer des Gefängniswärters, trinkt Kaffee mit ihm. Hier besuchen ihn seine Kinder zum letzten und einzigen Mal ab Verhaftung. Er ist guten Mutes und versichert ihnen, dass alles ein Missverständnis und dass ihn keine harte Strafe gewärtigt. Er beruhigt sie mit den Worten: "Wenn Pott vor Gericht die Wahrheit sagt, kann mir gar nichts passieren."
Von einer Pressemeldung zur Verhaftung ist nichts bekannt.
Der Prozess gegen Gabriel Weber findet am 3. Juli 1942 gegen 10.00 Uhr im Landgericht Köln statt. Die Stadtverwaltung Brühl beobachtet den Prozess offiziell und
besonders aufmerksam. Der Landrat schickt einen unbekannten Prozessbeobachter, die Stadt Brühl selbst schickt als Prozessbeobachter keinen Geringeren als ihren 1. Beigeordneten Dr. Josef Effertz,
den Nachfolger von Wilhelm Pott, der als Bürgermeister nach Wesseling gegangen ist und selber als Zeuge vor Gericht aussagen muss. Ein offizieller Untersuchungsbericht der Stadt durch besagten
Dr. Effertz bildet die Grundlage der Anklage. Die Staatsanwaltschaft Köln wendet sich in den 50er Jahren wie selbstverständlich bei ihrer Suche nach dem Urteil auch an das Stadtarchiv Brühl, weil
sie dort eine Abschrift weiß (?) oder vermutet- allerdings ergebnislos.
Eine Anklageschrift wurde dem Angeklagten übrigens nicht zugestellt, obwohl sogar in den Ausführungsbestimmungen zum Verfahren vor Sondergerichten „empfohlen“ wurde, diese so zuzustellen, dass „zur Anbringung von Beweisanträgen vor dem Beginn der Hauptverhandlung oder zur unmittelbaren Ladung oder Gestellung von Zeugen und Sachverständigen“ Gelegenheit wäre. Seit 2016 wissen wir, dass die Stadt Brühl (der Bürgermeister) als anzeigende Behörde die Anklageschrift zugeschickt bekommen hat- wie das ein Jahr später im Fall der Maria Weber nachweislich (Aktennotiz in der Akte) auch geschehen ist. Dass die Verteidigung sehr oft nicht mehr vor dem Termin die Akten einsehen und deshalb auch kaum wirksam werden konnte, beschleunigte die Verfahren sehr und setzte die Verteidigungsmöglichkeiten fast auf Null.
Weiteres unter dem Abschnitt "Todesurteil"
Als Anwalt hat sich Gabriel Weber den Kölner Rechtsanwalt Dr. Carl Becker ausgesucht. Wir wissen nicht, was ihn dazu bewegte. Wir wissen nicht, ob Dr. Becker wirklich alle Möglichkeiten zugunsten seines Mandanten ausgenutzt hat. Aber: wenn er wirklich - vieles spricht dafür - derjenige war, der es fertiggebracht hat, dass Wilhelm Pott in den Zeugenstand gerufen wurde, dann hat er angesichts der Zeitläufte seine Arbeit wirklich gut gemacht. Wir wissen, dass die Frau des Gabriel Weber trotz des Todesurteils gegen ihren Mann so viel Vertrauen in den Anwalt gehabt hat, dass auch sie ihm ihre Vertretung anvertraut hat. Für sie hat er dann ein erheblich milderes Urteil erreicht als die Staatsanwaltschaft es gefordert hatte. Von daher ist anzunehmen, dass er mindestens nicht zu der Art von Anwälten gehörte, die im vorauseilenden Gehorsam für den eigenen Mandanten die Todesstrafe (so z. B. Verteidiger vor dem Volksgerichtshof, Fall General Hoeppner) forderten.
Misstrauen scheint gegenüber am Sondergericht zugelassenen Rechtsanwälten in jedem Fall angebracht. In den „Meldungen aus dem Reich“ heißt es 1940, daß die Befugnis
zur Verteidigung in Strafsachen vor dem Sondergericht an eine besondere Zulassung durch den Oberlandesgerichtspräsidenten zu knüpfen sei. Herr Dr. Carl Becker, der Anwalt von Gabriel Weber besaß
die entsprechende Zulassung, was gleichzeitig bedeutete, dass Herr Becker ein "besonders geeignete(r), fachlich und vor allem weltanschaulich vollkommen gefestigte(r) Rechtswahrer", sprich auch
Parteimitglied war. Andernfalls hätte ihm die entsprechende Zulassung versagt werden müssen oder wäre, was möglich war, zurückgenommen worden.
Im Verfahren gegen Gabriel Weber soll er nach eigener Auskunft sogar extra nach Berlin gefahren sein, um in persönlichen Verhandlungen eine Begnadigung zu
erwirken.
Nicht unerwähnt soll in diesem Zusammenhang sein, dass es zahlreiche Anwälte bei den Sondergerichten gab, denen nur ihr eigenes Fortkom- men von Interesse war, die
gerne und ungeniert kassierten, aber alles vermieden, was ihnen Probleme mit dem Staat oder der Partei hätte einbringen können. Im Buch von Herbert SCHMIDT zu den Todesurtei- len in Düsseldorf
finden sich abschreckende Beispiele.
Die Stellung des Rechtsanwaltes in Verfahren vor den Sondergerichten war seit 1933 und erst recht seit 1939 sehr verändert zu der Stellung des Anwalts in der Weimarer Republik und war durchaus brisant. "Deutscher Rechtswahrer" zu sein bedeutete im Unterschied zum sogenannten "jüdischen Advokaten", dass aus dem "Diener am Recht" zunehmend ein Amtsträger wurde, der"trotz seiner privatrechtlichen Beziehung zu seinem Mandanten mit seiner ganzen Person zum Staat in demselben besonderen Treueverhältnis steht, das die Stellung des Beamten charakterisiert" Unmissverständlich drohte der Reichjustizmi- nister: "Der RA ist eingegliedert in die Gemeinschaft der Rechtswahrer und hat seine frühere Stellung als einseitiger Interessenvertreter des Angeklagten verloren. ... Wer sich nicht klar und bedingungslos inner- lich dazu bekennen kann und ständig danach zu handeln bereit und imstande ist, sollte die Robe eines deutschen RA nicht anlegen und eine Verteidigerbank nicht betreten." (zit. MÜLLER 2014) Zuwiderhandlungen konnten leicht zum Ehrengerichtsverfahren und zum Berufsverbot führen. 1943 wurde konsequenterweise die eigene Ehrengerichtsbarkeit abgeschafft und durch die für die beamteten Richter zuständigen Dienststrafgerichte ersetzt.
Trotz der eingeschränkten Rechte der Angeklagten vor einem Sonder-gericht enthielt die „Verordnung über die Bildung von Sondergerichten“ vom 21. Februar 1933 aber
dennoch die Pflicht, einen Verteidiger zu bestellen. Wenn ein Angeklagter selbst keinen Verteidiger wählte, musste dieser amtlicherseits gestellt werden. Die Auswahl und Bestel- lung erfolgte
durch den Vorsitzenden des Gerichts.
Die Staatsanwaltschaft wird im Gesamtverfahren so enorm gestärkt, dass sie praktisch alleine handlungsleitend wird. Ab 1942 wird sie sogar zur Disziplinierung der Anwälte eingesetzt. Eine Rundverfügung des Justizministers schafft ein eigenes Inquisitionsverfahren, in dem alle Umstände, welche die Haltung eines Anwalts als bedenklich erscheinen lassen, dem Sonderbeauftragten der Rechtsanwaltskammer im jeweiligen Bezirk mitzuteilen sind.
Rechtsanwälte, die die notwendige Übereinstimmung mit den Zielen der nationalsozialistischen Staatsführung vermissen lassen, werden verstärktem Druck ausgesetzt.
Das Reichsjustizministerium droht allen Rechtsanwälten, die nicht als „Organ der Rechtspflege“ an der Wahr- heitsfindung mitarbeiten, sondern Staatsfeinde und Volksschädlinge unterstützen,
strenge sitzungspolizeiliche und berufsrechtliche Sanktionen an, insbesondere den Ausschluss aus der Anwaltschaft.
Die meisten Rechtsanwälte waren Parteimitglieder. Nach Einsicht in die Personalunterlagen geht Herbert SCHMIDT für das Sondergericht Düsseldorf zum Beispiel davon aus, daß etwa 80 Prozent der Rechts-anwälte der NSDAP angehörten und entsprechende Weisungen der Partei zu befolgen hatten.
Nach dem Krieg gibt es einen kurzen Schriftwechsel zwischen dem Sohn Leo und dem Rechtsanwalt seines Vaters, bei dem Herr Becker
dem Sohn bereits Anfang 1946 bestätigt, dass es mit dem Urteil besondere Bewandtnis habe. Er nicht und auch niemand anderes aus dem Gerichtssaal habe mit diesem harten Urteil gerechnet. Auch
seine persönlichen (!) Verhandlungen zum Gnadengesuch in Berlin hätten überraschenderweise das Ergebnis nicht verändern können.
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