Bezugskarten aus Köln
Rationierung durch Lebensmittelkarten
Zum Kriegsbeginn 1. September 1939 wurde nach kurzen Vorbereitungen Ende August das Wirtschaftssystem auf Zwangsbewirtschaftung
umgestellt. Die Bevölkerung konnte wichtige Waren wie Lebensmittel oder Kleidung nur in einer Menge erstehen, wie sie auf dem jeweiligen Bezugsschein vermerkt war. Für die Verbraucher begann
"eine neue Zeitrechnung. Zu Beginn der vierwöchigen Zeitabschnitte gaben die lokalen Kartenstellen der Ernährungsämter Lebensmittelkarten aus, die zum Erwerb rationalisierter Lebensmittel
ausschließlich über die autorisierten Verteilungsstellen gegen Vorlage entsprechender Abschnitte und Marken berechtigten. Die Haushaltsplanung musste sich fortan an dieser neuen Periodisierung
orientieren und erforderte eine doppelte Budgetierung in Geld und in Marken." (MÖRCHEN 2011, S. 54) Die Produzenten ihrerseits waren fest in eine Planwirtschaft eingebunden und verloren ihr
angestammtes Recht auf freie Produktion. Es galt, den Zusammenbruch der Inneren Front, den Hitler für den eigentlichen Grund des Verlierens des 1. Weltkriegs ansah, zu verhindern. "Das
Rationierungssystem sollte deshalb sowohl eine relativ umfangreiche Versorgung sicherstellen als auch für die gerechte Verteilung der verfügbaren Lebensmittel sorgen. Komplexität und Flexibilität
waren seine Kennzeichen. Daneben bewirkte es aber unweigerlich, dass die Versorgung normiert und zentralisiert wurde, was
zum einen die ,,Vergleichsmentalität" unter den Empfängem förderte und zum anderen bewirkte, dass die Versorgungsprobleme auf die staatlichen Stellen zurückfielen." (ZIERENBERG 2006, S. 113)
Eine einigermaßen geordnete Versorgungslage sollte für die regimefreundliche Stimmung an der Heimatfront sorgen. Tatsächlich war aber die Stimmung seit dem Winter 1941 angespannt und führte zu
einer erhöhten Bereitschaft und bisweilen auch Notwendigkeit, die eigene Lage auf illegale Weise zu verbessern.
Korruption im Dritten Reich
Es darf wohl als wissenschaftlich gesichert gelten, dass keine neuzeitliche Gesellschaft stärker durch Korruption und Selbstbereicherung der Eliten geprägt gewesen ist als die nationalsozialistische. Korruption und Selbstbereicherung war auf allen Ebenen - vom Reichskanzler Hitler über die Reichsminister (hervorstechend Göring) bis zum einfachen Parteigenossen - ein bekanntes und verbreitetes Phänomen.
Den Recherchen des Hamburger Historikers Frank BAJOHR zufolge begann diese Entwicklung unmittelbar nach der Machtergreifung von
1933. Nach den Erfahrungen der wirtschaftlichen Not in der Weimarer Zeit erwarteten viele "alte Kämpfer" nach der Machtergreifung eine Belohnung für den harten und "entbehrungsreichen" Kampf, den
sie um die neue Gesellschaft gegen das "Bonzentum" der alten Gesellschaft gekämpft hatten. Sie forderten ein, was ihnen versprochen worden war: materielle Sicherung und sozialen Aufstieg. Die
Partei versuchte diesen Wünschen möglichst zügig nachzukommen, besonders deshalb weil der Zusammenhalt in der Partei ja auf dem besonderen Phänomen der Kameraderie untereinander beruhte. Die Partei wusste, was sie den "Alten Kämpfern"
schuldig war: So landeten sehr schnell gestandene, wenn auch meist unqualifizierte Parteigenossen auf hoch dotierten Posten im öffentlichen Dienst. Aus schwarzen Kassen und Sonderfonds floss
reichlich Geld an Parteifunktionäre.
Die Korruption nahm bei den neuen „Bonzen“ unfassbare Ausmaße an, war aber keineswegs auf sie beschränkt. Auch der "kleine
Mann" profitierte hier und da und je länger der Krieg andauerte, umso mehr. So gesehen nahm die "Volksgemeinschaft" zumindest ansatzweise Züge einer "Beutegemeinschaft" (BAJOHR) an und viele
"ganz normale Deutsche" verstrickten sich durch persönliche Bereicherung in die nationalsozialistische Unterdrückungs- und Vernichtungspolitik.
Zumindest was die Alltagskriminalität anbetraf, schien der Gedanke einer klassenlosen Volksgemeinschaft fast umgesetzt: illegale
Handlungen wurden für weite Teile der Bevölkerung Alltag, Überlebensalltag. Was LENZNER für nach 1945 beschreibt, begann spätestens mit der ersten Lebensmittelkarte 1939: "Sinnen und Trachten
(aller) ging um das einfache Überleben, um die Fragen: Wie und wo können wir tauschen, handeln, besorgen, abzweigen, organisieren, kompensieren, ergattern, aufgabeln, absahnen?" (LENZNER,
Brennende Kehle, S.10). Der Schwarze Markt wurde in großen Teilen der Bevölkerung als nicht wirklich kriminell empfunden, sondern stellte letztlich einen Akt legitimer Selbsthilfe in schwieriger
Zeit dar- und war doch immer illegal. Ein gefährlich explosives Gemisch, das jederzeit hochgehen konnte und dass staatlicher Willkür Tür und Tor öffnete.
Lebensmittelkarten und weitere Bezugsberechtigungen (Kohle, Schuhe, Kleidung und andere Konsumgüter) waren in dieser illegalen Ökonomie sozusagen das beliebteste Mittel, um in dieser Mangelwirtschaft zu bestehen oder gar besser als andere abzuschneiden. Mit einer zweiten Lebensmittelmarke konnte man sich zu den festgelegten niedrigen legalen Preisen eine zweite Ration besorgen, die zu Schwarzmarktpreisen unerschwinglich gewesen wäre. Die Lebensmittelmarke selbst wurde deshalb zum begehrtesten Tauschmittel. Die zusätzliche Marke konnte teuer verkauft werden oder gegen entsprechend teure Ware eingetauscht werden.
In der Realität vermischte sich die illegale Nutzung der Bezugskarten mit der in Staat und Partei weit verbreiteten Korruption. Unbestritten ist, dass sich die Spitzen von Partei und Staat mit Lebensmitteln und jeder Art von Luxus reichlich versorgten- das in einem bis dahin wohl völlig unbekanntem Ausmaß.
Im Zuge der Rationierung erhielten die Wirtschaftsämter der Gemeinden in der Kriegszeit eine herausragende Bedeutung im Alttagsleben der Bürger, avancierten sozusagen bezogen auf den Alltag der Bürger gar zur wichtigsten staatlichen Behördeneinrichtung. Die Beschäftigten der Wirtschaftsämter saßen an der Schaltstelle der Verteilung. Und wenn es irgendwo möglich war, beim Bezugskartenmissbrauch nicht auf zu fallen, dann hier. Das spiegelt sich reichsweit in der entsprechend hohen Zahl von Straftaten von Angestellten dieser Ämter wieder, die Straftaten von Beamten der entsprechenden Ämter ist überproportional extrem hoch.
Genauso wie die Wirtschaftsämter waren auch die Wohlfahrtsämter stark korruptionsgefährdet, weil sie über direkt zu verteilende
staatliche Gelder zur Subventionierung von Bürgern verfügten.
Korruptionsbekämpfung erhielt in der Partei- und Regierungspropaganda allerhöchsten Wert, ohne jedoch tatsächlich die Korruption
der Eliten auch nur im Ansatz in den Griff zu bekommen. Höhere Parteileute, allen voran Adolf Hitler selbst, erschienen unkorrumpierbar- sozusagen naturgegeben. Korruption begann erst auf der
mittleren Ebene der Parteimitglieder und der Beamten. Grundsätzlich darf davon ausgehen, dass die harten Urteile bei Diebstählen und Kriegswirtschaftsverbrechen von der Bevölkerung durchaus
begrüßt wurden. In diesem Zusammenhang wurden Kriegswirtschaftsverbrechen in der Bevölkerung allgemein als zerstörerisch für die Solidar- und Volksgemeinschaft empfunden. Die Regierung wusste
diese Stimmung propagandistisch äußerst geschickt auszunutzen. Die Zeitungen veröffentlichten entsprechend. Die Maßstäbe für Todesurteile scheinen nicht nur in der Regierung und in der
Richterschaft zunehmend verloren gegangen sein sondern auch in der Bevölkerung. (Vgl auch BOTHIEN, S. 97)
Auffallend ist der sehr hohe Anteil der Selbstständigen am Gesamtaufkommen der Angeklagten bei Kriegswirtschaftsverbrechen und hier wiederum der Berufe, die mit der Produktion, Weiterverarbeitung und Verteilung von Lebensmitteln zu tun haben. Landwirte, Metzger und Gastwirte stellen 31% aller Angeklagten. Spiegelbildlich ist die Zahl angeklagter kommunaler Angestellter und von Beamten, die mit der Ausgabe von Lebensmittelkarten zu tun hatten, besonders hoch.
Korruption in der Parteispitze des Rheinlandes Ende 1941, Anfang 1942
Wenn wir uns die Korruption in der räumlichen Nähe von Brühl einmal genauer anschauen, stoßen wir schnell auf die Person Josef Grohé und seine Clique.
Josef Grohé, Gauleiter Köln- Aachen, Reichskommissar für die besetzten Gebiete in Belgien und Nordfrankreich
Richard Schaller, Stellvertretender Gauleiter Köln- Aachen, Landeswalter für die Rheinprovinz in der NS-Volkswohlfahrt, Gauobmann der DAF
Alfons Schaller, Kreisleiter Köln, NSV- Gauamtsleiter
Gauleiter Grohé, Propagandaminister Goebbels und Kreisleiter Alfons Schaller beim Kölsch
Der Lebensstil des Josef Grohé
Robert Ley und sein Nachfolger als Gauleiter Josef Grohé Ende der 20er Jahre
Josef Grohé gehört zur sog. Waldbröl- Clique von Robert Ley. Ley ist der erste Gauleiter im Rheinland, Grohé sein Stellvertreter. 1931 beerbt Grohé Ley als Gauleiter, der nach Berlin geht. Grohe ist sein Statthalter, der Gau Aaachen- Köln wird immer Leys Gau bleiben. Dafür sorgt Grohé, der aus dieser Beziehung ebenfalls seinen Nutzen zieht: er selbst ist über Ley ganz nah beim Führer. Zur Clique gehören Richard Schaller (Grohes Vertreter), Alfons Schaller (Kreisleiter Köln und Gauamtsleiter NSV), Otto Marrenbach (Mitglied Reichstag, Geschäftsführer DAF, Reichskommissar) und Fritz Marrenbach (Leiter des Hauptpersonalamts in der Reichsorganisationsleitung der NSDAP), Rudolf Schmeer (stellvertr. Gauleiter unter Ley, später NSV) und Eduard Schmeer (Kreisleiter Aachen), Karl Bertrams (DAF), Heinrich Simon.
Aber zurück zum Lebenstil des Josef Grohé. Die Spitzen von Partei und Staat unterlagen grundsätzlich denselben Bezugsbeschränkungen wie die übrige Bevölkerung. Tatsächlich pflegten aber die Spitzen der Partei in Berlin einen enorm aufwändigen Lebensstil. Der Luxus der Oberen in Berlin wurde nicht verborgen, weil er schlicht ao ausufernd war, dass er gar nicht verborgen werden konnte. Er sollte nicht nur nicht verborgen, er sollte eigentlich vorgezeigt werden, spiegelte der Luxus der Oberen doch ihren Einfluss und Rang. In der Folge breiteten sich die Korruption und Beschaffungskriminalität auch auf die Parteispitzen in den Ländern, Gauen und Städten aus. Man wollte nicht nur seinen Teil vom Kuchen, man wollte auch durch ähnlich prunkvolle Feste und Villen gleich ziehen mit denen da oben im fernen Berlin. Das gilt schon für den kleinen Ortsgruppenleiter, erst recht aber für die jeweilige Gauleitung.
Josef Grohé, Nachfolger als Gauleiter und Statthalter von Robert Ley im Gau Köln- Aachen, Grohé ist der, von dem der
Landgerichtspräsident Müller sagt, dass er verlange, dass "mehr Rüben runtergehen", ist in ärmlichsten Verhältnissen in Gemünden im Hunsrück groß geworden. Während seiner Zeit als Gauleiter
ab 1931 wohnt er mit seiner Familie im Kölner Nobelviertel Lindenthal in einer Villa mit "viel Personal, Kindergärtnerin, Hausmädchen, Koch, auch einem Chauffeur"- wie sich alle Verwandten gerne
erinnern. Die großen Feiern und die luxoriösen Lebensumstände hinterlassen bei ihnen einen bleibenden Eindruck. (Vgl. PÖSCHE, S. 141) Grohé unterstützt die Verwandten großzügig, die Schwester
nimmt er im Flieger zu einer Parteiveranstaltung in Breslau mit, verhilft ihr zu einer Kreuzfahrt auf einem KdF- Schiff, weswegen sie ihm ihr ganzes Leben dankbar ist. In der Eifel bei Vogelsang
bewohnt Grohé eine weitere herrschaftlich ausgestattete Villa. Nach dem Krieg Mitglied der FDP und im Führungskreis des Werner Naumann- Kreises.
Der Schweizer Generalkonsul von Weiss weiß über Grohé und die persönlichen Vorteile, die er sich sogar während der Bombardierung Kölns verschafft, am 3. Juni 1942 - kurz nach dem 1000 Bomber- Angriff auf Köln - folgendes zu berichten:
"Hier glaube ich einen weiteren Einzelfall, für dessen Richtigkeit ich bürge, erwähnen zu sollen. Der hiesige Gauleiter, Herr Staatsrat Grohé, hatte Order gegeben, dass vor seiner in der Fürst Pückler- Str. gelegenen Wohnung ein löschzug für alle Fälle in Bereitschaft stehen musste.Er trat auch in Tätigkeit, als einige Brandbomben auf das Haus des Gauleiters gefallen waren. Der Löschzug verblieb die ganze Nacht bei seiner Wohnung, während Hunderte von Wohnungen und Häusern im Werte von Millionen schutzlos den Flammen überlassen werden mussten." (SCHMITZ/HAUNFELDER S. 175)
Woher die Möglichkeit herrührt, fast wöchentlich ausladende Feste zu feiern und z.B. eine Nichte täglich fürstlich zu
bewirten, wissen wir nicht exakt, weil es juristisch nicht von Belang geworden ist. Jedenfalls wissen wir, dass er das gleiche Problem gehabt haben muss, das damals alle hatten und ganz besonders
die, die Geld hatten: egal wieviel Geld er auch verdient haben mag, die Lebensmittel und die Kleidung und anderes mehr gab es nur auf Bezugschein und für jeden gleich viel oder auch wenig, allein
bezogen auf Alter und Schwere der Arbeit. Dass wir nichts Rechtsverwertbares über Korruption wissen, hat nichts damit zu tun, dass Grohé und seine Paladine nicht korrupt waren sondern damit, dass
jedwede Korruption höherer Parteikreise damals so erfolgreich verdeckt wurde, dass sie auch heute noch nur schwer recherchierbar sind. Zur Verdeckung gehörte an vorderster Stelle die von oben
angeordnete Praxis, "Sündenböcke" in der mittleren Staats- und Parteiebene zu finden und diese empfindlich mit öffentlicher Wirkung (Presse) zu bestrafen- ein erfolgreiches Konzept, das bis heute
seine Wirkung entfaltet. Im Bemühen, diesen Sumpf der Korruption, der Verstrickung und Verdunkelung gerade durch staatliche Stellen durch justiziable bzw. wissenschaftlich unanfechtbare
Ermittlungsarbeit trocken zu legen, ist man heute vielfach auf Mutmaßungen, Querverweise und die Plausibilität der gezogenen Schlussfolgerungen angewiesen. Heute, 70 Jahre danach, sind anders als
in den 50ern und 60ern Juristen und Wissenschaftler, frei genug, solche Schlussfolgerungen zu ziehen. Endlich.
Die Frage ist in der Tat für die Regionalgeschichte zentral: wer hat einem Grohé, einem Schaller, einem Pick und einem Pott die
notwendigen Bezugskarten zugeschanzt, damit sie ihren aufwendigen und großzügigen Lebenstil pflegen konnten? Wer war so dumm? Wer war so abhängig? Wer hat seinen Kopf wofür und für wen
hingehalten? Wie funktionierte das persönliche Netzwerk der Korruption in einer Gemeinde wie Brühl oder in einer Stadt wie Köln oder gar einer Region wie Köln- Aachen wirklich? Das sind dann
keine abstrakten Fragen mehr sondern konkrete Fragen um Leben und Tod. Gabriel Weber hat möglicherweise für das Wohlleben eines Herrn Grohé, eines Herrn Schaller, eines Herrn Pott mit seinem
Leben, dem seiner Frau und seiner Kinder bezahlt.
Josef Grohé, Gauleiter Aachen- Köln, auf einem Zigaretten- Sammelbildchen aus der Serie "Wer führt das 3. Reich?"
Ende 1941 wird - fast möchte man sagen zwangsläufig - ein großer Korruptionsskandal im Rheinland aufgedeckt, in den "höchste
Kreise" verwickelt sind und der das soziale Image der Partei aufs heftigste gefährdet. Unter dem Deckmantel der NSV (die nationalsozialistische Volkswohlfahrt) wurden Unmengen von Luxusgütern
(von Damenstrümpfen über Lebensmittel bis zu Möbeln) aus Frankreich nach Köln geschafft. Der Wert der Waren überstieg die Millionengrenze bei weitem. Allein die Zollbehörde verlangte von der NSV
eine Nachzahlung entgangener Zollgebühren(!) in Höhe von 1,2 Millionen Reichsmark. Verschiedene NS Funktionäre waren bereits verhaftet und im Klingelpütz inhaftiert worden, als deutlich wurde,
dass auch der stellvertretende Gauleiter Richard Schaller, Kreisleiter von Köln und Gauamtsleiter der NSV Alfons Schaller (Bruder des Gauleiter- Stellvertreters Richard Schaller) zu den
Beschuldigten zählte. Nach einer kurzen Untersuchungshaft und entsprechender Intervention aus Berlin wurde der kurzzeitig inhaftierte Alfons Schaller auf freien Fuß gesetzt. Mittlerweile waren
aber auch Josef Grohé als Gauleiter und Oberbürgermeister Peter Winkelnkemper Beschuldigte. Allgemein rechnete man mit der Selbsttötung oder der Verhaftung von Grohé.
Oberbürgermeister Peter Winkelnkemper, Köln
Korruption in der Stadt Brühl
Die Stadt- und Parteispitze von Brühl wusste genauso wie die Kölner Parteigenossen ausgiebig zu feiern. Der Ratskeller war schon unter Bürgermeister Freericks neben anderen Gaststätten wie dem Schützenhof und der Restauration "Zum Treppchen" (Inh. Martin Knott)
zum beliebtesten Versammlungs- und Feierort der Partei avanciert. Dort wurde reichlich aufgetischt. Leo Weber hat als Kind bei einem Besuch seines Vaters im Rathaus während seiner Schulpause
morgens mitbekommen, dass sein Vater "mal kurz nach nebenan" gehen musste, um seinen Vorgesetzten, der am Schreibtisch, noch stark alkoholisiert, eingeschlafen war, zu wecken. Und die Herren
waren wohl nicht zimperlich in ihren Wünschen. Die Rationierung der Waren seit September 1939 sollte augenscheinlich nicht dazu führen, dass die Fleischportionen auf den Tellern des Ratskellers
kleiner wurden. Von diesen ausladenden "Feten" der Partei reden ältere Brühler Mitbürger wie Frau Berg noch 70 Jahre später. Wilhelm Rösch sorgte gerne für die entsprechenden Portionen, geriet
aber schon bald in eine für die damalige Zeit typische Problemlage von Gaststätten und Lebensmittelläden: Essens(Waren-)ausgabe und einbehaltene Fleisch- und Fettkarten konnten nicht in
Übereinstimmung gebracht werden. Die gut zahlenden Gäste (Geld gab es genug) wollte man aber auch nicht verlieren. Gabriel Weber als Leiter der Wirtschaftsstelle sorgte bereits unter Freericks
für durchaus ordnungsgemäße Ausnahmegenehmigungen der Bezirksregierung in Köln. Das Wohlleben der Parteispitze und der mit ihr verstrickten Geschäftsleute war sicher zu stellen. Als schließlich
im späten Frühjahr 1941 die Fleischrationen erheblich weiter gekürzt und jede Ausnahmegenehmigung in Köln versagt wurde, verlegte man sich darauf, den "Bilanzausgleich" von Rösch und anderen mit
Hilfe sog. Rückläuferkarten sicher zu stellen. Wer in diesem Fall der ist, den man "man" nennt- darum geht es im späteren Prozess. War es Gabriel Weber alleine? Oder tat er es auf Weisung oder
mit stiller Zustimmung seines Vorgesetzten Wilhelm Pott? Alle Lebenserfahrung spricht dafür, dass Pott mit im Boot war. Beweisen ließ sich das nicht, es wollte wahrscheinlich auch niemand
beweisen. Problem des Gabriel Weber dabei: er nahm die Lebensmittelkarten auch dann an sich, als er Mitte 1941 kommissarisch Leiter des Wohlfahrtsamt wurde und die Loyalitäten der Mitarbeiter der
Wirtschaftsstelle ihm gegenüber als unmittelbarem Vorgesetzten schon nicht mehr wirklich trugen. Weiteres Problem: er entnahm eine begrenzte Zahl von Karten, um selbst mehr einkaufen zu
können.
Und dann war da auch noch ein neuer junger und ehrgeiziger Beigeordneter, Dr. Josef Effertz, der mit dem Weggang von Pott dessen Stelle beim dubiosen Übergang der
Amtsgeschäfte von Freericks auf Pick übernimmt und dessen Rolle bis 2016 undurchsichtig bleibt. 2016 beim Studium der Personalakte des Gabriel Weber stellt sich heraus, dass er die Federführung
in der Ermittlung hatte. Wenn der Vorwurf Gabriel Webers einer "einseitigen Ermittlung zu seinem Schaden" berechtigt sein sollte, dann trägt Dr. Josef Esser genau dafür die Verantwortung: er
notiert an keiner Stelle auch nur einen kleinen Hinweis darauf, dass Gabriel Weber mit Zustimmung höherer Stellen handelte oder dass Weber einen solchen Vorwurf erhebt, es sei denn man
nimmt eine handschriftliche Notiz zu einer ausdeutbaren Aussage von Pott als Beweis des Gegenteils. Offensichtlich war die Personalakte in den späten 40er und frühen 50er Jahren nicht auffindbar
(weder privat durch Leo Weber noch offiziell durch die Besatzungsmacht im Rahmen ihrer Säuberungsaktionen). Sie enthielt mit dem internen Ermittlungsbericht- so eine mögliche Sichtweise -
tatsächlich genügend Material, das z. B. der Karriere von Josef Effertz im Nachkriegsbrühl hätte schaden können. Gabriel Weber hat im späteren Prozess die Korruptions- und Unterschlagungsvorwürfe
eingestanden- bestand aber immer darauf, dass die Verantwortung dafür mit seinen Vorgesetzten geteilt werden müsse.
In diesem Zusammenhang mag der kurze dienstliche Aufenthalt des Gabriel Weber im "Osteinsatz" in der Stadt Bromberg für seine Hoffnungen, aus der Sache unbeschadet herauszukommen, möglicherweise prägender gewesen zu sein als man erst meint: hier hat er hautnah mitbekommen, wie Ermittlungsverfahren gegen Repräsentanten von Stadt und Partei erfolgreich juristisch glattgebügelt wurden. Der Bromberger Kreisleiter der NSDAP und Oberbürgermeister der Stadt Werner Kampe hatte zwischen 1939 und 1940 aus beschlagnahmten polnischen Wohnungen Einrichtungsgegenstände billigst an seine Entourage verkauft und das Geld einbehalten. Zusätzlich hatte er bei der Haupttreuhandstelle Ost 500.000,00 RM veruntreut. Das Strafverfahren gegen Kampe wurde aus politischen Gründen und nach Intervention des Gauleiters niedergeschlagen. Stattdessen "bestrafte" ein Parteigericht Kampe mit einer "Warnung" und "dreijährigem Amtsverlust". Doch selbst diese Strafe wurde ausgesetzt und Kampe zum neuen Kreisleiter in Danzig- Stadt. (Vgl. BAJOHR 2001, S. 158 und bei Maximilian BECKER, Mitstreiter im Volkstumskampf. Deutsche Justiz in den eingegliederten Gebieten. Anmerkung 1208)
Das persönliche Interesse an der Unterschlagung der Karten scheint bei Gabriel Weber durchaus vorhanden gewesen zu sein, war aber letztlich - wie sogar das Gericht
feststellen wird - marginal. Auch für die Partei- und Stadtspitze ist das persönliche Interesse am Feiern und am guten Essen das Eine, wahrscheinlich ging es aber schon auch darum, in
wirtschaftlich schwierigen Kriegszeiten den Wohlstand der Bürger Brühls zu sichern, indem man vor allem das wirtschaftliche Überleben der Geschäftsleute und der mittelständischen Unternehmen
sichern wollte. Die Rationierungserlasse aus dem fernen Berlin machten das nicht gerade leicht. Die Stadt Brühl selbst erwirtschaftet immerhin noch 1942 laut vorliegendem Haushaltsplan
(vgl. THRAMS) einen beachtlichen Haushaltsüberschuss- ein nicht nur nebensächliches Moment in dem, was man Machtsicherung bzw. Legitimationsbasis nennt. Die Stadt nutzte dazu auch den später
sogar von Richter Eich hervorgehobenen "Fleiß" Gabriel Webers.
Zusatztexte und Zusatzmaterial als
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