Kriminalbiologische Untersuchung

Kriminalbiologische Untersuchungsstelle an der Vollzugsanstalt Köln

 

"Am 30. November 1937 wird vom Reichsjustizminister für den Bereich der Reichsjustizver­waltung ein „Kriminalbiologischer Dienst“ eingerichtet, wobei man sich auf Erfahrungen der bayerischen Justizverwaltung beruft, die dort schon seit längerer Zeit in solchen Einrichtun­gen gesammelt worden waren. Diese Institution hatte „im Dienste der Strafrechts- und der Erb- und Rassenpflege des deutschen Volkes planmäßig die Wesensart Gefangener, d. h. die erbli­chen Anlagen und die im Leben und durch das Leben bewirkte Gestaltung der Persönlichkeit zu erforschen."  Die Ergebnisse sollten der Strafrechtspflege vor allem für kriminalbiologische Gutachten ärztlicher Sachverständiger zur Verfügung stehen, die vor der Urteilsfindung über Strafen oder Maßregeln der Sicherung und Besserung gehört werden sollten.

 

Viele der zum Tode verurteilten Angeklagten wurden vor ihrer Hinrichtung kriminalbiologisch untersucht. Der Leiter dieser Untersuchungsstelle war Regie­rungsmedizinalrat Dr. Kapp vom Gefängnis in Köln-Klingelpütz. Hier wurden Untersu­chungsakten mit Angaben über Personalien, Vorstrafen, Beruf, Schulbildung und Familienverhältnisse angelegt, in denen die psychische, soziale, erbbiologische, prognostische und somatische Konstitution des Verurteilten bewertet wurde. In den Gutachten hieß es dann unter anderem; „leptosom“, „pyknisch“, „Rassenmischtyp nordischer Einschlag“, „Verstand durchschnittlich, aber primitiv“, „gute häusliche Verhältnisse“. Anthropometrische und morpho­logische Daten wurden aufgenommen, das Nervensystem wurde kontrolliert und sehr detail­lierte persönliche Befragungen wurden schriftlich festgehalten. Die Probanden mußten Unterschiedsfragen beantworten, nach Vorlage Sätze bilden, Redensarten erklären, Ergän­zungsaufgaben lösen, Sinnwidrigkeiten beurteilen, einen Lebenslauf abgeben und sittliche All­gemeinvorstellungen sowie Sprichwörter kommentieren. Die Gedächtnis- und Merkfähigkeit wurde geprüft und das Verhalten des Untersuchten während der Prüfung begutachtet. Über sexuelle Einstellungen und Erfahrungen wollte man sehr detaillierte Angaben. Eine Sippen­tafel wurde erstellt, es wurden Fragebögen an Arbeitgeber und Schulen verschickt. Nacktauf­nahmen des Untersuchten in drei verschiedenen Ansichten kamen zu den Akten.

 

Die Untersuchungsakten sollten die Gesundheitsämter „zur Erfüllung ihrer Aufgaben auf dem Gebiet der Erb- und Rassenpflege“ unterstützen. Außerdem sollten sie den Hochschulleh­rern, die für Kriminalbiologie zuständig waren, als Lehrmaterial zur Verfügung gestellt werden.

 

Die kriminalbiologischen Akten über die zum Tode Verurteilten zeigen so auch den Prozeß der Verwissenschaftlichung der Vernichtung auf,  wenn beispielsweise über Personen, die bereits hinge­richtet waren, noch Auskünfte über ihr Verhalten im Alltagsleben und ihre Einordnung in die sogenannte „Volksgemeinschaft“ eingeholt wurden." (SCHMIDT 2008)

 

 

Zur kriminalbiologischen Untersuchung

 

In der nationalsozialistischen Strafrechtspflege hatte die medizinische Untersuchung der Häftlinge eine große Bedeutung. Es ging darum, die Verurteilung eines Untersuchungsgefangenen als unverbesserlichem Schwerverbrecher auch kriminalbiologisch zu untermauern. Auf der einen Seite sollte auf psychiatrischer Basis die Zurechnungsfähigkeit und Schuldfähigkeit des Angeklagten eingeschätzt werden, auf der anderen Seite eine Prognose über die Gefährlichkeit und die kriminelle Karriere erstellt werden- dies auch zu dem schlichten Zweck, die "Ausmerzung" des Verbrechers nahezulegen. Besonders das Gewohnheitsverbrechergesetz rief sozusagen nach einem medizinisch- biologischen Gutachten, das diese "Tatsache" unzweifelhaft belegte. Entsprechend intensiv waren die richterlichen und staatsanwaltlichen Fortbildungsangebote des Ministeriums, um die Juristen in die Lage zu versetzen, die medizinisch- psychiatrischen Gutachten zu verstehen und beim Urteil zu nutzen.

 

Die Untersuchungen erfolgten im Vorfeld der Hauptverhandlung. Es bedurfte des entsprechenden Untersuchungsauftrages durch den Oberstaatsanwalt. Die Ergebnisse wurden dann in einem schriftlichen Gutachten oder auf einer entsprechend vorbereiteten Karteikarte festgehalten und mündlich in der Hauptverhandlung vorgetragen. Hier hatten sie oft einen entscheidenden Einfluss auf das Urteil selbst. Hatte die medizinische Untersuchung bereits ergeben, dass der "Delinquent" dem Typus des Volksschädlings zuzuordnen war, folgte der Richter in der Regel der entsprechenden Typisierung. Dasselbe gilt für die Diagnose "Gewohnheitsverbrecher".  Die ärztliche Diagnos induzierte auf diese Weise oft genug das spätere Urteil. Erstaunlich, dass dieser unmittelbare Zusammenhang von medizinischer Diagnosen und Urteilen aus der damaligen Zeit bisher nur am Rande wissenschaftlich aufgearbeitet ist. Die beamtete Ärzteschaft blieb in der Folge nach dem Krieg von juristischer Verfolgung fast vollkommen verschont- und das trotz teilweise direkter Tatbeteiligung.

 

Besonders interessant ist in diesem Zusammenhang das Sondergericht Köln und der kriminalmedizinische Dienst des Klingelpütz- Arztes  Dr. Kapp. Die Aktenlage scheint hier vergleichsweise gut zu sein, auch scheint die Untersuchungspopulation verhältnismäßig groß und das Untersuchungsdesign besonders "kompetent" und "modern" oder, wenn man so will, besonders abgebrüht. LÖFFELSENDER zeigt für die weiblichen Häftlinge in Köln, "dass trotz zunehmender Verfahrensvereinfachungen- und beschleunigungen auch im Krieg von der Möglichkeit, die Beschuldigten ärztlich untersuchen zu lassen, keineswegs zurückhaltend Gebrauch gemacht wurde" (2012, S. 153). Immerhin 18,4% aller weiblichen Häftlinge werden untersucht.

 

In den meisten Fällen beauftragte man den Kölner Gefängnisarzt Dr. Franz Kapp. Für LÖFFELSENDER ist der 1898 in Oberlahnstein bei Koblenz geborene und in Essen 1980 verstorbene Franz Kapp der "Prototyp des medizinischen Gutachters in der nationalsozialistischen Strafrechtspflege" (S. 156). Ab 1937 erhielt er die Oberaufsicht über alle in den Oberlandesgerichtsbezirken Köln, Düsseldorf und Zweibrücken vorgenommenen kriminalbiologischen Untersuchungen. Er gehörte zum "inneren Führungskreis der kriminalbiologischen Community" (ebd.) und hielt 1938 auf dem Internationalem Kriminologen- Kongress in Rom einen Vortrag über das "Studium der Persönlichkeit des Verbrechers". Ab Mitte der 30er Jahre ist er "Befürworter einer entschieden rassenhygienisch ausgerichteten Verbrechensbekämpfung" (ROTH 2010, S. 397).

 

Dr. Kapp arbeitet sich während seiner Zeit als Gefängnisarzt im Klingelpütz auch in die Erstellung von Gutachten für jugendliche Straftäter ein. 1948 war er aus "gesundheitlichen Gründen" aus dem Justizdienst ausgeschieden und betitelte sich selbst als Facharzt für "Nerven- und Gemütsleiden, Psychotherapie und Jugendpsychiatrie". Er publizierte in den 50ern unter anderem zu jugendpsychiatrischen Themen. (LÖFFELSENDER 2012, S. 178) Erst arbeitete er selbständig im oberbergischen Nümbrecht und später in Essen, unter anderem als Chefarzt im Franz- Sales- Haus.

 

Zurück zur kriminalbiologischen Untersuchung. Das Untersuchungsdesign verfolgt nach LÖFFELSENDER zwei Erfassungsrichtungen:

  • zum einen die Vermessung des sozialen und psychologischen Wesens des Verbrechers ("Mapping the Criminal")
  • zum anderen die Erfassung aller verwandtschaftlichen Beziehungen mit dem Ziel, weitere "kriminelle Elemente" aufzuspüren ("Mapping Criminality")

Die kriminalbiologische Untersuchung findet normalerweise routinemäßig während des Strafvollzugs statt, wird aber oft auch direkt mit dem Gutachten für die Hauptverhandlung verbunden. Die gutachterliche Erfassung bei Kapp folgte dem Untersuchungsdesign seiner kriminalbiologischen Untersuchung.

 

Inhaltlich umfasst die Untersuchung

  • das Studium der bisherigen Ermittlungs- und Krankenakten
  • die ärztliche Anamnese
  • die ärztliche Untersuchung und Vermessung
  • weitere körperliche und psychiatrische Exploration, vor allem Intelligenzüberprüfung

Im Wesentlichen stützte Kapp sich neben Eigenentwicklungen (z. B. "Sonder- Intelligenzüberprüfungsbogen für Frauen") auf den Erfassungsbogen von Theodor Viernstein, dem Begründer der kriminalbiologischen Untersuchung. Der "Viernstein- Bogen" bleibt übrigens - meist bereinigt um die rassenbiologische Argumentation - Grundlage psychiatrischer und - für den Insider wenig erstaunlich - sonderpädagogischer Untersuchungen bis in die späten 80er Jahre.
Die Untersuchung von Gabriel Weber folgt dem Viernstein- Bogen.

 

 

 

Die Untersuchung des Gabriel Weber

 

 

Die "Kriminalbiologische(n) Untersuchungsakten der Untersuchungsstelle an der Vollzugsanstalt in Köln über Weber Gabriel Nr. 71/42" stoßen uns einerseits wegen ihres abartigen Charakters als erb- und kriminalbiologisches Forschungsinstrument zur Rechtfertigung massenhafter "Ausmerzung" ab und fassen uns andererseits so besonders emotional an, weil ausgerechnet durch sie zum Vater, zum Onkel, zum Gefangenen eine Nähe hergestellt wird, wie sie im allgemeinen menschlichen Umgang sonst nicht selbstverständlich oder üblich ist. Eine Nähe, die allenfalls engsten Angehörigen bei der Sterbebegleitung vorbehalten ist. Eine Nähe, von der wir nicht einmal wissen können, ob Gabriel Weber selbst gewollt hätte, dass wir sie heute durch erneutes Studium herstellen. Wir gewinnen den Blick auf den Gefangenen letztlich nur deshalb, weil ihm mit seiner Verhaftung und dem später folgenden Urteil seine bürgerlichen Rechte auf Lebenszeit aberkannt wurden - wir gewinnen einen Blick, gegen den er kein Einspruchsrecht hat. Fast könnte es scheinen, als machten wir uns so mit dem Gefängnisarzt und seinem Auftrag gemein. Tatsächlich aber - so unsere Überzeugung - machen wir uns solidarisch mit dem Opfer und glauben gerade dadurch, einen Beitrag zu seiner "Würdigung"  leisten zu können.

 

So verstanden sind die ärztlichen Unterlagen für uns heute besonders wertvoll,

  • weil in ihnen die verloren gegangene Abschrift des Todesurteils zu finden ist,
  • weil in den ärztlichen Untersuchungsunterlagen bei all ihrer beabsichtigten politischen Instrumentalisierung die Persönlichkeit des Gabriel Weber so authenisch durchscheint, dass wir ihm hier persönlicher begegnen können als im Urteil des Richters Eich,
  • weil er überhaupt nur hier noch selbst zu Wort kommt,
  • weil in ihnen sein handgeschriebener Bericht zur Selbstwahrnehmung seiner eigenen Geschichte vorliegt,
  • weil der untersuchende Arzt, möglicherweise eingefangen von der besonderen Persönlichkeit des Gabriel Weber, mit seiner speziellen Hinterfragung der Glaubwürdikeit des Angeklagten Zweifel durchscheinen lässt, was die Rechtmäßigkeit des Todesurteils anbetrifft. Eine Unsicherheit, die den Arzt bis in die letzten Lebenssekunden des Gefangenen zu begleiten scheint,
  • weil uns mit den konkreten stenografierten ärztlichen Hinrichtungs- Notizen die letzen Gedanken und Worte des Gabriel Weber erfahrbar werden,

 

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Kriminalbiologische Akte des Gabriel Weber
Archivmaterial dank freundlicher Recherche durch das Hauptstaatsarchiv Duisburg
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Überraschenderweise finden sich in der Akte nicht die sonst üblichen Fotografien des Angeklagten (in der Regel entwürdigende Ganzkörpernacktfotos). Auch hat die Untersuchung wahrscheinlich  nicht Dr. Kapp selbst durchgeführt (er ist zwar als der Unterschreibende mit der Schreibmaschine vorgemerkt, die persönliche Unterschrift fehlt dann aber). Für die Untersuchung und die Akte scheint sein Assistent Pehl verantwortlich gewesen zu sein. Wahrscheinlich war dieser Pehl auch der begleitende Arzt bei der Hinrichtung. Sowohl die Wiederaufnahme der speziellen Frage der Glaubwürdigkeit dieses Angeklagten in der Hinrichtungsnotiz am 20.8. aus der ärztlichen Untersuchung vom 12.7. spricht sehr für diese Annahme wie auch das gleiche stenografische Schriftbild bei der Zusammenstellung der Untersuchungsergebnisse und bei den Hinrichtungsnotizen.

Zur Untersuchung:

Die ärztliche körperliche Untersuchung findet offensichtlich erst nach gefälltem Urteil (03.07.) am 12.07., die ärztliche Exploration (Gespräch) am 18.07. statt. Offensichtlich lag dem Gericht damit bei seinem Urteil die übliche Karteikarte zur "Zusammenfassenden Beurteilung" nicht vor sondern wurde nachträglich am 18.07. erstellt. Sie enthält die kriminalbiologische Beurteilung "Volksschädling als Kriegsverbrecher"  also in diesem Fall nicht als Vorwegnahme des juristischen Urteils sondern als schlichte Übernahme seiner Diktion.

 

Wir erfahren aus der ärztlichen Untersuchung, dass Gabriel Weber 5 Brüder und 3 Schwestern hatte, er selbst war das achte Kind seiner Eltern. Erfahren auch, dass Gabriel in der Kindheit unter ein Pferd gekommen ist und danach augenscheinlich unter einer psychotraumatischen Belastungsstörung litt: "Angstzustände und immerwährendes Schreien".  Sein Vater starb mit 41 Jahren, als er selbst gerade erst 6 Jahre alt war. Von einem weiteren schweren Unfall mit 12 Jahren beim Glockenläuten in der Kirche hat er eine sichtbare Kopfnarbe davon getragen. Seine Gesundheit ist zur Zeit der Untersuchung ausgehend von den üblichen ärztlichen Parametern gut, der Blutdruck bestens, der Schlaf allerdings während der Haftzeit sehr schlecht, seine Zähne schlecht gepflegt und kariös, der Rachen durch Rauchen gerötet, die Lunge aber ohne Befund. Aus nicht ganz verständlichen Gründen befindet er sich ab dem 5.7. auf der Krankenstation. Mögliche Gründe dafür könnten sein:

  • starke Abmagerung (Notiz: "Gew") oder
  • starke Depression ("bedrückt") oder
  • der durch Frau Horbach überlieferte Zusammenbruch bei der Urteilsverkündung bzw. die Panik vor der drohenden Hinrichtung.

Gabriel Weber ist ausweislich der ärztlichen Akte Reichsdeutscher, in der Gesamtkonstitution "leptosom- pyknisch" und gehört der "fälischen" Rasse an, ist also rein arisch. Es folgen die typischen Vermessungen zur erbbiologischen Rassebestätigung.

 

Im Arztgespräch spricht Gabriel Weber von 2 Fehlgeburten seiner Frau und betont seine Treue zu ihr und dass sie die einzige Frau gewesen sei, mit der er Verkehr gehabt habe - auch vor der Ehe. Der Arzt ergänzt die Treue- Bemerkung mit einem "angeblich". Die erste Fehlgeburt war vor der Ehe, die deshalb erst einmal nicht geschlossen werden konnte, weil die Mutter der Ehefrau Eva Oellig gegen diese Heirat war - so jedenfalls die Selbstauskunft von Gabriel Weber. Erst nach erneuter Schwangerschaft habe die Mutter seiner Frau der Hochzeit zugestimmt.

Der Arzt empfindet den Angeklagten bei seiner Untersuchung als "bedrückt und gehemmt" und notiert auch hier die Bemerkung: "Sagt er immer die Wahrheit?"

 

Gabriel Weber betont, wie sehr ihn seine Eltern zur "Einhaltung der Pflichten gegenüber der Kirche" angehalten hätten und wie auch er das gegenüber seinen Kindern immer tue. (Seine Kinder würden das - heute befragt - gewiss bestätigen)

 

Befragt zum Urteil, sagt Gabriel Weber, dass er dass Urteil "äußerst hart" finde. Er habe "mit ein paar Jahren Freiheitsstrafe" gerechnet, aber niemals mit dem Todesurteil. Das treffe ihn "aufs Äußerste", vor allem wenn er an die Familie denke.

 

Der Arzt in seinem Bericht: "Proband ist sehr gedrückt, hofft aber auf einen guten Ausgang seines Gnadengesuchs, manchmal hat man bei der Exploration das Gefühl, dass er nicht ganz aufrichtig antwortet." Hinweis auf die Unglaubwürdigkeit sind ihm die zögerliche Erwähnung des niedergeschlagenen Ermittlungsverfahrens von 1934.

 

Fast scheint es ein wenig so, als beeindrucke der fromme Gabriel Weber den Arzt doch etwas mehr als erwartet und als kämen dem Arzt Zweifel daran, dass das Todesurteil den Taten angemessen sei. Fast wirkt es so, als dienten die häufigen gleichlautenden fragenden Überlegungen zur Glaubwürdigkeit des Gefangenen dazu, ihn selbst wieder auf seine eigentliche ärztliche Tätigkeit zurückzuführen und ihn selbst dahingehend zu beruhigen, dass der Delinquent den Tod tatsächlich verdient habe.

Die "Weichheit" des Angeklagten wird vom Arzt sogar noch in seinem Steno- Kurz- Bericht zu den letzten Sekunden im Leben des Gabriel Weber in ihrer Ambivalenz (sympathisch oder "unsympathisch?") festgehalten und nochmals mit der Frage der Authenzität verbunden. Ob der Widerwille gegen die Weichheit des Angeklagten nur eine persönliche Marotte des Arztes ist oder ob die Hervorhebung der unsympathischen Weichheit in der Hinrichtungsnotiz eher einer letzten inneren Beruhigung dient, dass Gabriel Weber den Tod auch tatsächlich verdient hat, ist nicht zu klären. Die "Ausmerzung alles Weichlichen" (Adolf Hitler) lag aber zeit- und kriegsbedingt durchaus im Trend und entsprach wohl auch dem, was breite Bevölkerungskreise innerlich akzeptierten oder öffentlich beklatschten.

 

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Hinrichtungsnotiz des Arztes (Übersetzung aus Steno)
Der bei der Hinrichtung anwesende Arzt notiert in fahriger Kurzschrift die letzten Worte des Gefangenen und schließt die Notiz mit der Frage nach der Glaubwürdigkeit des Angeklagten (Original in Gesamtakte)
Hinrichtung Arztbericht.pdf
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Zum Krankenhausaufenthalt des Gefangenen:

Gabriel Weber wird am 5.7.1942 gefesselt in das Krankenhaus (Lazarett) des Kölner Gefängnisses aufgenommen und bleibt dort bis zu seiner Hinrichtung am 20.08.1942. Er erhält Raucherlaubnis. Möglicherweise ist der Grund für die Aufnahme eine beträchtliche Gewichtsabnahme. Jedenfalls könnte das aus der Einlieferungsbemerkung "Gew." erschlossen werden. Andere Gründe sind nicht aufgeführt.


Eine am 8.7.42  veranlasste Blutprobe ergibt am 9.7.1942 bei der Untersuchung durch die Hautklinik der Universität Köln keine relevanten Ergebnisse: "Ohne Befund".

 

Während des Krankenhausaufenthalts finden die entsprechenden oben erwähnten Untersuchungen statt.

 


Der Bericht:

Seinen Bericht verfasst der Gefangene am 5. August 1942, 14 Tage vor seiner Hinrichtung. Noch hofft er- wie er schreibt - auf seine Begnadigung. Ob sein Bericht auf diese Hoffnung ausgerichtet ist und ob er damit rechnet, mit dem Bericht das Begnadigungsersuchen unterstützen zu können, bleibt unklar. Unklar bleibt auch, mit welchen Worten der Arzt die Aufgabe überhaupt gestellt hat, ob es sich beim Bericht also um einen handschriftlichen Lebenslauf handeln soll, ob der Bericht den Tathergang (aus seiner Sicht) schildern oder ob der Bericht Gründe für sein Handeln darlegen soll. Genauso unklar wie der gewünschte Inhalt ist der Adressat des Berichtes. Fällt er unter das ärztliche Schweigegebot (wahrscheinlich eher nicht), geht er an irgendeinen Entscheider, kommt er bloß zu den Akten, werden ihn möglicherweise irgendwann die Frau oder die Kinder lesen können? Es bleibt unklar für Gabriel Weber, auch für uns.

 

Der Bericht wird von Gabriel Weber dementsprechend hölzern in Kanzleisprache formuliert. Erstaunlich aber, wieviel persönliche Information Gabriel Weber trotzdem unterbringen kann und wie anrührend der Bericht letztlich doch auf uns wirkt.

 

Besonders wichtig ist es ihm hervorzuheben, wie glücklich seine Ehe mit Maria Anna Weber gewesen ist und dass er nie ein anderes Mädchen oder eine andere Frau hatte. Seine Kinder wollte er "zu ordentlichen Menschen heranziehen". Hier sieht er seine größte Schuld. Er erwartet, dass seine beiden Söhne Johannes und Willi das Gymnasium verlassen müssen, "um den Lebensunterhalt der Familie zu bestreiten". Was er nicht mehr erfahren wird, ist, dass diese Befürchtung nicht eintritt. Sein bester Freund Johannes Wichterich wird das Schulgeld übernehmen, seine Frau wird - wenn auch schlecht- von der Wohlfahrt leben und findet im familiären und sonstigen näheren Umfeld einige Unterstützung. Nur sein Sohn Leo wird tatsächlich die Handelsschule verlassen müssen, weil er durch das Urteil gegen seinen Vater als "politisch unzuverlässig" gilt.

 

Die Motivation zur Tat macht er überraschenderweise an seiner beruflichen Erfahrung fest: zu seinen Aufgaben - so schreibt er - gehörte die Bearbeitung von Mündelsachen unehelich geborener Kinder. Aus der ungerechten Verachtung alleinstehender Mütter und dem Unverständnis der Bevölkerung für die Not der unehelichen Kinder erwächst ihm - so seine Selbstreflexion - ein besonderer Aufrag als Beamter und Mensch, nämlich "entgegenkommend zu sein" und zu helfen, "worauf ich auch die von mir begangene Straftat zurückführe". Über die Tatsache, eine Straftat begangen zu haben, ist er sich sehr im Klaren. Die damit verbundenen Vorteile für ihn und die Familie, wenn auch extrem geringe, erwähnt er mit keinem Wort, sei es weil es ihn beschämt, sei es, weil diese "Vorteilsnahme" in seinem Denken tatsächlich eine ganz und gar untergeordnete Rolle gespielt hat, sei es, um sich selbst ins beste Licht zu setzen. Faktisch spiegelt sich genau dieses Selbstbild auch in allen Erinnerungen der wenigen noch lebenden Zeitzeugen (ganz besonders bemerkenswert, weil außen stehend: Frau Berg). Als "Kriegsverbrecher", als den ihn der Arzt in seine Akte einträgt, kann er sich wohl gar nicht sehen. Mithin eine Bezeichnung für eine Straftat der Veruntreuung, die angesichts massenhafter Straftaten durch Mord (der SS, der Wehrmacht, anderer Stellen wie vor allem der Medizin und der Justiz und angesichts des Holocaust) auch heute verwundert und uns mit Recht auf's Äußerste  empört.

 

Es gibt beste Gründe anzunehmen, dass sich die "bittere" und "tödliche" Schlussfolgerung in der Selbstbeschreibung des Gabriel Weber mit der Wirklichkeit deckt: "Mit meinen Worten gesagt, ich war zu gut und wollte jedem helfen."

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Bericht Gabriel Weber 5.8.1942 (Übersetzung)
Handgeschriebener (Sütterlin) Bericht des Gabriel Weber anlässlich der ärztlichen Untersuchung vom 12.7. 1942., geschrieben am 5.8.1942 (Original in der Hauptakte, siehe dort)
Bericht Gabriel 12.7.42.pdf
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