DER PERFEKTE mORD

Die Gesamtzahl der während der NS- Zeit von Gerichten zum Tode Verurteilten und Hingerichteten lässt sich nicht mehr mit aller Sicherheit feststellen, da es an zuverlässigen Unterlagen fehlt. Fraglich ist sogar, ob es damals eine wirklich vollständige Statistik gegeben hat bzw. wieweit sie bis zum Kriegsende fortgeführt werden konnte. Seriöse zurückhaltende Schätzungen belaufen sich auf die ungeheuerliche Zahl von 16.560 Todesurteilen. Aus den Trümmern des Justizministeriums wurde eine Aufstellung geborgen, aus der hervorgeht, dass von 1934 bis 1944 insgesamt 12891 Todesurteile gefällt wurden. Gabriel Weber ist auf dieser Liste, genannt Mordregister, aufgeführt unter der Nummer MR 1265/42.

Die Zahl der Todesurteile steigerte sich von Jahr zu Jahr. belief sie sich in den Jahren 1934 bis 1939 auf insgesamt 679, steigerte sich die Zahl von 1940 auf 1941 bereits um das Fünffache, von 1943 auf 1944 um das Einundzwanzigfache. Selbst 72 Jugendliche (unter 18 Jahren) wurden in dieser Zeit zum Tode verurteilt. Fast sämtliche Todesurteile wurden auch vollstreckt. Der zum Tode Verurteilte konnte nur mit wenig Aussicht auf Rettung auf eine barmherzige Gnadenpraxis hoffen. Die Begnadigungen reichsweit beliefen sich auf ca. 12%. Die Begnadigung bedeutete in der Regel die Herabsetzung auf mindestens 8 Jahre Zuchthaus. Besonders aus wirtschaftlichen Erwägungen (die Zahl der Strafgefangenen in den "normalen" Anstalten hatte sich zwischen 1939 bis 1944 fast verdoppelt) heraus waren diese Strafen in der Regel in speziellen Arbeits- und Konzentrationslagern abzuarbeiten, die sich dem Programm "Vernichtung durch Arbeit" unterworfen hatten. Die meisten Begnadigten fanden dort einen frühen Tod. Viele mögen ihre Begnadigung eher verflucht haben angesichts der Qualen und der Gewalt in diesen Lagern. So jedenfalls bezeugen es die wenigen Überlebenden.

Das Todesurteil für Gabriel Weber ist 1 von 127 Todesurteilen der zivilen Strafgerichtsbarkeit, die allein das Sondergericht Köln gefällt hat. Im Reich gab es insgesamt 27 Sondergerichte. Noch höher als die in der zivilen Strafgerichtsbarkeit gefällten Urteile waren die, die von Wehrmachtsgerichten gefällt worden sind. Nach heutigen Schätzungen verurteilten die Richter ca. 50.000 Wehrmachtssoldaten zum Tode, vor allem wegen Desertion und sog. Wehrkraftzersetzung. Zwei Drittel der Todesurteile wurden auch vollstreckt. Die meisten Todesurteile wurden durch "ordentliche" Richter ausgesprochen während ihrer Abordnungen zum Militärdienst. So ist zum Beispiel bekannt, dass Walter Müller als Landgerichtspräsident vielfach abgeordnet war. Untersuchungen zu seiner Urteilspraxis beim Militär liegen nicht vor.

 

Für alle diese Toten gilt, dass sie in einem "ordentlichen" Verfahren umgebracht worden sind, für das bis auf Ausnahmen auch niemand zur Verantwortung gezogen wurde. Perfekter lässt Mord sich nicht planen, perfekter lässt er sich nicht umsetzen. Doch, ein wenig perfekter geht es doch noch: wenn man sämtliche Aktenvorgänge zum Mord vernichtet. Das ist vielfach geschehen.

 

Ein Wiederaufnahmeverfahren für Gabriel Weber gab es nach dem Krieg nicht,

  • weil das Urteil gegen ihn von der Kölner Justiz stillschweigend gestrichen worden war und vor allem deshalb nicht,
  • weil die Unterlagen und auch das Urteil bis Februar 2015 unauffindbar waren.

 

 

Die Auskunft der Staatsanwaltschaft Köln nach dem Krieg, dass die Akte mit dem Todesurteil Weber an die Militärbehörden abgegeben wurde, scheint nicht unwahrscheinlich zu sein, weil verbürgt 91 Todesurteilsakten den Militärbehörden übereignet wurden. Darunter scheint auch die des Gabriel Weber gewesen zu sein- sie wurde dann im Gegensatz zu den anderen Akten nicht mehr zurückgeführt, ist irgendwo verloren gegangen. Seltsam in diesem Zusammenhang bleibt, dass die Übereignung in der juristischen Bürokratie - ungewöhnlich genug - ohne jede Aktennotiz geblieben ist und dass die Akte vollständig mit dem gesamten auch weniger bedeutenden Inhalt (aber ohne Aktendeckel) abgegeben worden ist. Die andere Einlassung, dass alle gerichtlichen Akten (Ermittlungsakten, Beiakten etc.) zum Fall Weber evtl. durch Kriegseinwirkung zerstört worden seien, wirkt dagegen wenig glaubhaft, weil die "Nachbarakten" überraschenderweise nicht durch Kriegseinwirkung versehrt wurden. Die Vermutung auf eine gezielte Vernichtung liegt ebenfalls nicht fern und könnte darin begründet sein, dass durchaus konkrete Personen wegen ihrer Nachkriegskarrieren ein Interesse am  Verschwinden der Akten hatten. Das muss auch in diesem Fall nicht unbedingt der zum alleinigen "Blutrichter" (Adolf Klein) von Köln erklärte Karl Eich gewesen sein. Auch der Richter Engelbert Gerits z.B. könnte ein unmittelbares Interesse an der Vernichtung gehabt haben, setzte er doch nach dem Krieg seine Richterkarriere am Landgericht Köln erfolgreich fort. Bei der möglichen gezielten Aktenvernichtung hat man die Akten des kriminalbiologischen Dienstes wohl übersehen. Auf deren Existenz und auch Brisanz wurde man übrigens überhaupt  erst in den 90er Jahren aufmerksam. 2015 wurde in der unversehrten medizinischen Akte des Gabriel Weber dann eine beglaubigte Abschrift des Urteils wieder gefunden.

 

Dass sich die Juristen der Sondergerichte über den Unrechtscharakter ihrer Urteile und Anklagen im Klaren waren, lässt sich zumindest vermuten und aus einem verbürgten Beispiel erschließen. Für das Luxemburger Sondergericht, das zum Oberlandesgerichtsbezirk Köln gehörte, ist die vollständige Aktenvernichtung durch Verbrennen am 7. und 8. September 1944 in Trier durch die Staatsanwälte Drach und Wienecke belegt. Wienecke wird in den 50er Jahren übrigens Oberstaatsanwalt in Koblenz.

 

Für die Stadt Brühl gibt es die Besonderheit, dass ihre Geschichte im Nationalsozialismus durch die Arbeiten von Peter Thrams besonders gründlich aufgearbeitet ist- und das in neuerer Zeit. Bemerkenswert ist hier, dass trotz intensiver Recherche zur Stadtverwaltung Brühl, zur Wirtschaftsgeschichte Brühls, zu Todesurteilen für Brühler Bürger und auch zur Geschichte der katholischen Pfarrei  St. Margareta der Name des Gabriel Weber nicht auftaucht, geschweige denn irgendwelche sonstigen konkreten Hinweise auf Korruption und Schieberei in der Stadtspitze. Offensichtlich sind schon während des Krieges oder danach alle diesbezüglichen Hinweise gründlichst beseitigt worden. In den 50er Jahren wurde immer darauf hingewiesen, dass viele Akten durch Brand vernichtet worden sind. Tatsächlich mag der Brand sein Werk getan haben. Er hat es vielleicht aber auch erleichtert, schließlich ganz aufzuräumen. Trotz des Brandes ist die Archivlage in Brühl so schlecht nicht. Tatsächlich waren in den 80er Jahren nur wenige Tage des Jahrgangs 1942 aus dem  "Westdeutschen Beobachter" archiviert. Wie Herr THRAMS noch einmal persönlich versichert hat, ist ihm nie ein Hinweis auf das Todesurteil gegen Gabriel Weber untergekommen. Wir haben keinen Grund, daran zu zweifeln- und doch und gerade deshalb verwundert es sehr.

Für einen weiteren Historiker der Regionalgeschichte, Wolfgang Drösser, gilt fast dasselbe wie für Thrams. Weder bei seinen doch recht aktuellen Recherchen zur Geschichte der Stadt Brühl noch bei seinen älteren Recherchen zur Pfarrchronik von St. Margareta stößt er auf die Person Gabriel Weber. Er kann aber immerhin einen Hinweis auf einen Zeitzeugen geben, der den Namen Gabriel Weber im Gespräch erwähnt habe.

 

Zusammengefasst muss wohl gelten, dass es nicht unwahrscheinlich ist, dass irgend ein Unbekannter in der Stadtverwaltung dafür gesorgt hat , Teile der Geschichte der Stadt im Dunkel zu lassen.

 

 

Der Herausgeber verschiedener historischer Fotobücher zur Geschichte Brühls Dr. Hans J. Rothkamp hat bei seinen vielen Recherchen zur Geschichte der Stadt Brühl im Nationalsozialismus bis zum 01.05.2015 ebenfalls nie einen Hinweis auf die Hinrichtung des Oberstadtsekretärs Gabriel Weber erhalten.

Zurück zu den Todesurteilen selbst: Die Begründung der meisten Todesurteile wie auch die Begründung des Urteils gegen Gabriel Weber durch Eich, Voss und Gerits muten wahrlich "abenteuerlich" an, abenteuerlicher aber als die Begründung des Todesurteils gegen Gabriel Weber mutet die Rechtskonstruktion an, die die bundesrepublikanische Justiz 1961 bzw. das Justizministerium findet, um die Herren Eich und Voss unbehelligt zu lassen. Hatte der Kölner Oberlandesgerichtspräsident noch in seiner Stellungnahme im Ermittlungsverfahren gegen Eich und Voss das sog. Rasseschande- Urteil der beiden gegen Karl Sch. als rechtswidrig und mit rechtsstaatlichen Grundsätzen unvereinbar bezeichnet, kam das nordrheinwestfälische Ministerium zum Schluss, die beiden erst gar nicht gerichtlich zu belangen, weil das Urteil formal nicht zu beanstanden sei und es nicht auf "gesetzesfernen Erwägungen" beruhe: "Die besondere Härte des Urteils mag auch darin seine Erklärung finden, dass der Angeklagte sich nicht gescheut hatte, sein nach den damaligen Gesetzen strafbares Lotterleben bis mitten in den Krieg hinein fortzusetzen..." (Verfügung NRW 12. März 1960). Das Justizministerium übernimmt  damit 1960 fast wörtlich Sätze aus dem damaligen Todesurteil und spricht quasi ein zweites "Todesurteil" aus demselben Blickwinkel heraus. Von heute aus gesehen unfassbar. (siehe ROTH 2010, S. 161). Das Ermittlungsverfahren wurde nieder-  geschlagen, weil die Richter Eich und Voss damals eben von der Rechtmäßigkeit ihres Handelns überzeugt gewesen sein konnten (Vgl. Roth 2010, S. 152) oder hätten sein können.

 

Selbst wenn man sehr nüchtern die juristische Aufarbeitung des Justizterrors nach 1945 durch die Bundesrepublik betrachtet, kann man mit vollem Recht zur Überzeugung kommen, dass auch ein Roland Freisler von einem bundesrepublikanischen Gericht nicht verurteilt worden wäre. Böse Zungen behaupten gar, ihm hätte eine glänzende Karriere im Justizministerium bevorgestanden oder ihm wäre der Vorsitz eines der hohen Gerichte angedient worden. Tatsächlich ist in der Begründung des Einstellungsbescheides des Ermittlungsverfahrens der Staatsanwaltschaft Berlin gegen weitere Juristen am Volksgerichtshof zu lesen, dass ihrer Meinung nach speziell bei den Verfahren gegen die Widerstandskämpfer vom 20. Juli 1944 "mindestrechtliche Anforderungen" gegeben gewesen seien. Bundesweit gezeigte Filmausschnitte der Verhandlungen, in denen die Angeklagten beschimpft wurden als "Schlappschwanz von Defätist", "schmutziger alter Mann", "Schweinehund" oder "kleiner Haufen Dreck" änderten an dieser Einschätzung nichts (vgl. GIORDANO 1987, S.83).

 

Die Toten bzw. ihre Angehörigen sehen das mit den "mindestrechtlichen Anforderungen" - seltsam genug - dann doch anders.

Auch für das Urteil gegen Gabriel Weber gilt, dass die Sondergerichte mit Rechtssprechung schlichtweg nichts zu tun hatten, sie haben allenfalls gerichtliche Formen genutzt - um widerrechtlich zu töten. Nichts weniger als das.

 

Das Urteil der amerikanischen Justiz gegen 16 Repräsentanten der NS- Justiz stufte die Justiz noch sehr grundsätzlich als kriminelles Werkzeug des NS- Unrechtsstaates ein und erklärte sie zahlloser Verbrechen gegen die Menschlichkeit für schuldig. Die Schlussfolgerung der amerikanischen Juristen 1947 findet erst heute in der neueren Forschung zur Justiz der NS- Zeit mehr oder weniger einhellige Zustimmung: NS- Justiz war Unrecht und was die Todesurteile angeht, kaschierten diese die Tat, den Mord. "Der Dolch des Mörders war unter der Robe des Juristen verborgen" - er war gut versteckt und tat doch so furchtbar oft seinen Dienst. (Nürnberger Juristenurteil, S. 43, abgedruckt in: OSTENDORF/TER VEEN 1985)

 

 

 

Juristenprozess der Aliierten 1947 in Nürnberg. Erste Reihe, vierter von rechts: Karl Engert; zweite Reihe: erster von rechts: Franz Schlegelberger; zweiter von rechts: Curt Rothenberger

 

 

Die bundesdeutsche Justiz bedachte den Nürnberger Juristen- Prozess der Amerikaner mit Nichtbeachtung, er wurde damals weder in den bundesdeutschen rechtswissenschaftlichen Zeitschriften erwähnt noch kam es überhaupt zur Veröffentlichung des Urteilstextes. Der wurde erst 1996 (!) veröffentlicht. Juni 1947 fühlte sich der Juristenstand schon wieder so fest im Sattel, dass der Lindauer Landgerichtspräsident Müllereisert als Sprecher tönen konnte, der Prozess diene einzig dazu, "Rache am politischen Gegner zu nehmen". Der nordrheinwestfälische Justizminister Artur Sträter verstieg sich gar zu dem Satz: "In den Sondergerichten haben oft Männer gesessen, die unvorstellbares Leid verhindert haben." Ein Satz, der sehr verwandt ist mit der Verteidigerposition im Ausschwitzprozess, nach der die Ärzte an der Rampe mit ihrer Selektion Leben retteten.

 

 

Was in der Öffentlichkeit gar nicht bekannt ist: Selbst die Mitglieder des Widerstands vom 20. Juli 1944 um Graf Stauffenberg erhielten keine Genugtuung durch irgendeine Verurteilung ihrer Henker. Die Begründung dafür schickt dem Nazi- Mord den bundesrepublikanischen Rufmord hinterher. So sprachen die Richter des Landgerichts München I den des Mordes angeklagten Richter Huppenkothen, verantwortlich für eine ganze Reihe standrechtlicher Hinrichtungen von Widerstandskämpfern (Hans Oster, Hans von Dohnanyi, Wilhelm Canaris) am 9. April 1945 , vom Mordvorwurf frei, "und zwar mit der unfassbaren Begründung: Nach damaligem Recht hätten sich die hingerichteten Widerstandskämpfer des Hoch- und Landesverrats schuldig gemacht." (GIORDANO, Die zweite Schuld, S. 78) Öffentliche Beweihräucherung von Widerstandskämpfern steht diametral gegenüber dem, was GIORDANO die zweite Schuld der Deutschen nennt, die Nichtahndung schlimmster Verbrechen unter dem Mantel des Rechts und der Gerechtigkeit. Die Mörder waren und blieben Teil der bundesrepublikanischen Gesellschaft.

 

 

Bemerkenswert, dass die bundesdeutsche Justiz schon 1954 auch sehr klar sehen und ganz andere Urteile fällen konnte, nämlich dann, wenn es sich um DDR- Juristen handelte und Urteile der DDR- Justiz. In den sog. Waldheim- Prozessen wurde den Urteilen "jede Rechtswirksamkeit" abgesprochen mit der Begründung, die einem bundesrepublikanischen Gericht bezogen auf die NS- Justiz alle Ehre gemacht hätte:

 

»Zu den Hauptverstößen dieser Art rechnet vor allem die Tatsache, daß den Angeklagten durchweg eine ausreichende Verteidigung nicht zugebilligt oder ermöglicht wurde, daß eine der Strafprozeßordnung entsprechende Beweisaufnahme nicht durchgeführt, der Verurteilung mehr oder weniger unvollkommene polizeiliche Pro­tokolle und Denunziationen zugrunde gelegt wurden, so daß si­cher fundierte Schuldfeststellungen nicht getroffen werden konn­ten, daß der Grundsatz der Öffentlichkeit der Hauptverhandlung nur in den wenigen Fällen Beachtung fand, in denen sogenannte Schauprozesse durchgeführt wurden, daß die Urteile schon vorher und nach bestimmten Richtlinien festgelegt waren, daß die ver­hängten hohen und höchsten Zuchthausstrafen und Todesstra­fen überwiegend in keinem gerechten Verhältnis zu den angebli­chen Verfehlungen standen und in ihrer Unrechtmäßigkeit jedem rechtsstaatlich anerkannten Grundsatz widersprechen. Die so zu­stande gekommenen Urteile erweisen sich als absolut und unhalt­bar nichtig.« (zit. GIORDANO 1987, S. 158)

 


Tatsächlich müssen die Opfer der NS- Justiz und die Opfer der bundesdeutschen Justiz bis 1985 warten, bis der Bundestag in einer Entschließung die Urteile des Volksgerichtshof aufheben will. Durch Intervention des Justizministers Engelhard (die pauschale Aufhebung der Sondergerichtsurteile führe dazu, dass auch die Freisprüche der Sondergerichte aufgehoben seien und die dort Verurteilten seien in der Regel Schwerverbrecher) stimmen die Abgeordneten aller Parteien schließlich einer Entschließung zu, die nur davon spricht, dass "den Entscheidungen des Volksgerichtshofs nach Überzeugung des Deutschen Bundestags keine Rechtswirkung zukomme." (MÜLLER, Furchtbare Juristen)

 

Damit waren die Urteile nicht einmal des Volksgerichtshofs eindeutig aufgehoben, geschweige denn die der Sondergerichte. Es handelte sich bei dieser Entschließung gesetzlich nur um eine Meinungsäußerung des Bundestags mit 100% Mehrheit. Es bedurfte weiterhin eines speziellen Antrags auf Aufhebung. Erst am 25. August 1998 annullierte der Bundestag alle nationalsozialistischen Unrechtsurteile des Volksgerichtshofs und der Standgerichte. Es bedurfte dann noch jahrelanger, oft peinlicher Diskussionen, bis der Bundestag im Juli 2002 die Kriegsgerichtsurteile gegen Wehrmachtdeserteure, Kriegsdienstverweigerer und Wehrkraftzersetzer und im September 2009 die Urteile sogenannter Kriegsverräter aufhob. Die allgemeine Aufhebung aller Sondergerichtsurteile steht weiter aus.

 

Auch der Komplettabriss des Klingelpützgefängnisses muss in diesem Zusammenhang erwähnt werden. Der Kölner Klingelpütz lebt zwar als Worthülse weiter auch für die neue Strafanstalt in Ossendorf, wurde aber als düsteres Kapitel der Stadtgeschichte "aus dem kollektiven Gedächtnis weitgehend verdrängt". THIESEN schreibt, dass das "dort Geschehene meist nur noch als diffuse Ahnung von "bedauerlichen Vorkommnissen" (so Oberregierungsrat Günter bei der Einweihung des neuen Gefängnisses in Ossendorf 1962) in der Erinnerung fortlebte. Der vollständige Abbruch der Gefängnisgebäude Ende der 1960er Jahre verstärkte diese Verdrängung weiter, da die Bauten als Zeugnisse der Vergangenheit durch einen von Grünflächen umgebenen Kinderspielplatz ersetzt wurden" (2011, S. 7)- die "bedauerlichen Vorkommnisse" sind mit dem Totalabriss des Gebäudes sozusagen vollständig vom Erdboden getilgt.

 

Ralph Giordano spricht in seiner offiziellen Rede zur Präsentation der Untersuchung der NS- Vergangenheit des Justizministeriums aus, was die Historiker in ihrer Untersuchung zur NS- Vergangenheit mit weniger deutlichen Worten formuliert haben: Die Todesurteile waren Mord und nichts anderes. Sie waren der "perfekte Mord". Ihre Straffreiheit hatten die NS- Juristen eben nicht einem siegreichen Hitlerdeutschland zu verdanken, sondern dem deutschen Rechtsstaat. Sie erhielten die Straffreiheitnicht etwa, weil es keine Spuren gab, sie erhielten die Straffreiheit, obwohl "die juristische NS- Tötungsmaschine überbordend zigtausende Beweise hinterlassen" hat. (GIORDANO 2013, S. 28) Giordano betont, dass er der bundesdeutschen Justiz mit diesem Diktum nicht pauschal ihre Rechtsstaatlichkeit abspreche. "Was sie aber mit jener vorsätzlichen, organisierten und kollektiven Exkulpierung der Kollegen aber tatsächlich verloren hat, das war ihre Würde" (S. 32)

 

Die "rechtmäßige Hinrichtung" machte den staatlichen Mord zum perfekten Mord, weil nie gesühnt und auch nicht mehr sühnbar. Das Schweigen darüber war total- auf der Seite der Täter und auch der Opfer. Eigentlich gab es den Mord gar nicht- bis 1994.

 

 

Zum perfekten Mord gehört aber nicht nur das oben beschriebene Schweigen der offiziellen Stellen sondern ganz besonders auch das Schweigen im persönlichen Umfeld der Täter- aus Selbstschutz. Die Täter scheinen Scham oder Schuld nur selten zu empfinden und erst recht nicht zu äußern. Sie selbst nicht, aber auch ihr näheres persönliches Umfeld nicht. So berichtet Helge Jonas Pösche, ein Neffe des Gauleiters Josef Grohé, darüber, wie seine Verwandten auch nach dem Krieg und bis heute trotz der historischen Ereignisse von Krieg, Kriegsende und Holocaust und dem Kriegsverbrecherprozess gegen Grohé daran festhalten, dass Herr Grohé ein Held und ein "guter Gauleiter" war, in Wirklichkeit Juden geholfen hat und gar kein Nazi war. Herr Grohè kann nach dem Krieg fast bruchlos seine Rolle als liebenswertes Familienoberhaupt einnehmen und seine Vergangenheit in eine heldische Erzählung für sich und sein Umfeld einbinden. Der Familie des Hinrichtungsopfers Gabriel Weber aber bleibt Entsetzen, Scham. Wenigstens das Schweigen ist heute beendet.


Unser Dank geht an die Wenigen, die in den 50er bis 90er Jahren auf Rehabilitation und Rechenschaftslegung beharrten und ganz besonders an die jüngere Generation von Historikern, die sich heute vielfach darum bemühen, den fachistischen Alltag aufzuarbeiten und den "perfekten Mord" an den Vielen eben doch nicht hinnehmen.


Version dieser Seite: 1/2017