Trauma der Kinder

Es muss noch einmal festgehalten werden: alle hatten in diesem bösen Stück ihre Wahlmöglichkeiten. Selbst Gabriel Weber hatte eine Wahl, jedenfalls vor seiner Verhaftung. Es war keine gute Wahl, die er getroffen hat. Und der Preis dafür war genauso ungerecht wie er hoch war. Selbst seine Frau hatte eine Wahl, die Konsequenzen dieser Wahl bitter und unaushaltbar.

 

Während die Beteiligten an den Taten und die Beteiligten am Prozess und an der Hinrichtungan alle immer auch eine Wahl hatten, die Kinder hatten sie nicht. Für sie blieb nur die Ungerechtigkeit des Urteils, die Brutalität der Hinrichtung, die Bitterkeit über die Vergeblichkeit aller Hoffnung und die Unaushaltbarkeit und Nichterzählbarkeit dessen, was in ihnen an widersprüchlichen Gefühlen miteinander im Streit liegen mag. Ein explosives Gemisch, das jedes der Kinder auf seine besondere Weise sein Leben lang unter Kontrolle gehalten hat. Die eine durch die Hinwendung zur Krankenpflege und ein fast klösterliches Leben, der andere durch Verdrängung und Abspaltung, der nächste durch stete Trauer und verzweifeltes Bemühen, das Rad der Geschichte noch zurückdrehen zu können oder doch mindestens die Gleichgültigkeit der Zeitgenossen in Rehabilitation zu wandeln und Genugtuung zu erlangen, der letzte durch seine eigene Opferung für den "Schwerverbrecher-Vater" und die "Sorgen- Mutter": er opferte seine jungen Jahre Jesus Christus und seiner Kirche, wurde katholischer Priester und Ordensmann im Erlöserorden der Redemptoristen, um schließlich mit 40 Jahren einen wiederum mühevollen Kampf zu kämpfen für die Rückkehr zu sich selbst und ein Leben als Ehemann und Vater. So sehr er sich auch von seinem Versprechen befreite, ein befreites Leben war ihm nicht wirklich vergönnt. Das Trauma hatte ihn fest im Griff- so wie alle anderen wohl auch.

 

Priesterweihe Sohn Willi

 

 

 

Der bundesrepublikanischen Gesellschaft war die Entschädigung für staatlich begangenes Unrecht 2006 in einer nachgeholten Härteregelung endlich je 2.500,00€ wert. Beschämend wenig im Verhältnis zu dem, was ein Trauma anrichtet für das Leben. Aber auch: Mehr als nichts. Dass es über 60 Jahre brauchte, ist der eigentliche Skandal.

 

Einige Fakten können wir hier noch zusammentragen- die Geschichte der Kinder und ihrer Traumatisierung müssen jedoch andere erzählen. Vielleicht ihre Frauen oder Freunde, vielleicht auch irgendwann deren Kinder. Sie sind eingeladen.

 

Zu den Fakten, die hier noch aufgeführt gehören, zählt auch die bittere Wahrheit, dass für die Kinder von Maria und Gabriel Weber zum

Trauma des Elternverlustes das zusätzliche Trauma der im Stich Gelassenen hinzu kommt. Solange die Mutter noch lebte, hatten die Kinder offensichtlich in ihr eine fürsorgende Begleiterin, mit der sie ihr Leid und ihren Schmerz teilen konnten. So ganz stimmt das nicht: tatsächlich war die Mutter wahrscheinlich schon länger depressiv (deshalb in ärztlicher Behandlung bereits 1920 und 1926). Sie verfiel nach der Hinrichtung des Ehemanns in tiefe Verzweiflung und Angst. Sie brauchte wahrscheinlich die "Kleinen" auch zum eigenen Überleben, zumal ihr Ältester, Johannes, als Soldat an der Ostfront im todbringenden Einsatz stand. Lebensgemeinschaft hatte sich in Schicksalsgemeinschaft verwandelt.

Maria Weber, Witwe und Mutter von vier Kindern 1943, wenige Monate vor ihrem Tod, am Küchentisch

Maria Weber als glückliche junge Mutter mit ihren drei Kindern (Leni, Johannes und Leo) im Garten der Oma in Weißenthurm Ende der 20er Jahre

Der frühe Tod der Mutter aber verdoppelte, was an Leid und Schmerz eh schon nicht aushaltbar scheint. Offensichtlich gab es für die Mutter selbst und die Kinder unmittelbar nach dem Tod des Vaters immerhin Unterstützung durch Freunde und Verwandte. Unterstützt wurden sie vor allem finanziell- soweit das bisher ersichtlich ist - von der befreundeten Familie Wichterich und emotional wahrscheinlich durch die Schwester der Mutter, Irma, sehr tatkräftig auch durch den Kaplan Esser von der Pfarre St. Margareta. Ein Freund des Vaters in Berlin kann auch die sofortige Relegation des Sohnes Leo von der Handelsschule in Köln verhindern. Er darf tatsächlich die Mittlere Reife noch machen, die Oberstufe darf er allerdings dann nicht mehr besuchen. Er muss die Schule im März 1943 verlassen.

 

Der frühe Tod der Mutter scheint möglicherweise bei der Schwester Irma und ihrem Mann eher Sorge und auch Abwehr ausgelöst zu haben denn den unbedingten Willen, finanziell und emotional für diese Kinder da zu sein. Sorge, die sich vielleicht in der Aussicht begründet hat, jetzt noch zusätzlich zu den drei eigenen Kindern, vier weitere Kinder versorgen zu müssen. Abwehr, die sich vielleicht darin begründet hat, die eigene Überforderung in dieser Aufgabe zu ahnen oder zu kennen. Die Vormundschaft für die drei minderjährigen Kinder zu übernehmen, scheint mithin noch selbstverständlich, sie aber in die eigene Familie aufzunehmen und für sie als Vater und Mutter da zu sein, nicht mehr. Alles Sorgen scheint rein darauf bezogen zu sein, die Kinder "versorgt" zu wissen (wie auch immer)- zusätzlich emotional Halt zu geben und die Kinder in der Bewältigung des Traumas zu unterstützen, scheint dagegen nicht Teil dieser Vormundschaft zu sein, vielleicht wurde es nicht einmal bedacht. Jedenfalls äußert sich eine solche Sorge nirgendwo.

 

Der Sohn Leo jedenfalls fühlt sich ab dem Tod der Mutter alleingelassen und durch den Militärdienst um seine Jugend betrogen. Er wird als 16jähriger 6 Wochen nach dem Tod der Mutter eingezogen und wird 1944 einem "Himmelfahrtskommando" an der Ostfront zugeteilt. Von 125 Kameraden seiner Kompanie überleben 5. In seinem Soldbuch kann er später den Eintrag "politisch unzuverlässig" lesen. Schlimmste Fronttraumatisierung wandelt sich durch seine Fahnenflucht bei der Auflösung der Verbände im Osten und ihrer Flucht in den Westen in schiere Angst, das gleiche Schicksal wie das des Vaters zu erleiden. Ein gnädiger deutscher Oberst nimmt den Deserteur als Versprengten wieder offiziell in seine Truppe, die Amerikaner schließlich schicken in Kenntnis des Soldbucheintrags das "Kind" sofort nach Hause nach Brühl. Er ergreift diese Gelegenheit sofort, ohne wirklich zu wissen, was er in Brühl soll. Seine Eltern sind tot. Hier ist er auf sich alleine gestellt. Also kehrt er dahin zurück, was er kennt: in die zerstörte vormalige städtische Mietwohnung des Vaters und der Mutter in der Mühlenstraße 79. Hier macht er sich behelfsweise und illegal sein ehemaliges Zimmer wieder zurecht. Die Nonnen des nahen Krankenhauses, in dem schon die Tochter Leni Aufnahme gefunden hat, unterstützen den Bruder Leo mit Essen- gewiss auch eingedenk des Vaters, der die Nonnen seinerzeit sehr unterstützt hat. Niemand aber kümmert sich um das seelische Wohl des gerade aus dem Krieg zurückgekehrten "Kindersoldaten"- er ist, als er von der Front flieht, noch keine 18 Jahre alt. Er ist mit sich allein und mit allen anderen auch.

 

Welche Rolle die Oma der Kinder spielen konnte, wissen wir nicht. Sie lebte im Haushalt der Schwester Irma in Koblenz, die Vormündin der Weberkinder war. Die Oma Eva Oellig hatte sehr früh 1913 ihren Mann und dann 1925 auch noch die Tochter Luise verloren. Diese Tochter starb im Wochenbett des zweiten Kindes und hinterließ 2 Kinder, die das böse Schicksal traf, bei einer Stiefmutter aufwachsen zu müssen, die die eigene Brut eifersüchtig bevorzugte und die "fremden" Kinder nicht lieben konnte. Der Ehemann Albert Kohlhaas war Lehrer im Eifeldorf Münstermaifeld, fanatischer Nationalsozialist, duldete und beförderte wohl diese ungleiche Behandlung seiner Kinder. In der Familie gibt es zur Rolle, wie sie die Oma als mögliche "Ersatz"mutter für die Kinder der Tochter Luise und dann für die Kinder der Tochter Maria hätte spielen können oder auch gespielt hat, keine Erzählung. Man weiß, dass die Oma wohl zum Sohn der Schwester Irma Peter ein besonders herzliches Verhältnis entwickeln konnte. Das Verhältnis zu den Weberkindern scheint dagegen eher reserviert gewesen zu sein. Gabriel Weber sah das Verhältnis zur Schwiegermutter zeitlebens - wie er dem Gefängnisarzt gegenüber äußert- als gespannt an. Die Oma Eva starb 1947.

 

 

Von heute aus gesehen ist es leicht zu sagen, die Oma hätte doch, die Vormündin hätte doch... Wir können sie nicht mehr befragen. Vielleicht war alles anders als wir denken. Anders als wir es wünschen, war es sowieso schon. Tatsache bleibt, dass nicht nur der Vater und die Mutter Weber mit dem ungerechten Urteil einen unangemessen hohen Preis bezahlen mussten für eigenen Leichtsinn, eigene Dummheit, Selbstherrlichkeit und Gutmütigkeit oder gar persönliche Bereicherung (zu welcher Einschätzung der Einzelne auch kommen mag)- sondern dass vier Kinder durch das Todesurteil in einer Weise beschädigt worden sind, dass ihr Leben ein einziger Überlebenskampf wurde, über den zu schweigen für alle vier Kinder lange Zeit Überlebensbedingung war.

 

Auf sie trifft zu, was Kertész als Schicksallosigkeit der Holocaustopfer beschrieben hat. Je „schicksalloser“ (Imre Kertész) die Lage, soll heißen, je weniger es wahrscheinlich ist, dass das, was geschieht, nicht geschehen könnte, desto verheerender die  angerichtete Zerstörung. Je größer aber die Zerstörung und je größer die Ausweglosigkeit, desto mehr ist Schweigen angesagt, um überhaupt überleben zu können. Ein fataler Teufelskreis, der zugleich den scheinbaren Widerspruch verständlich macht, dass da, wo die Zerstörung am tiefsten geht, die Amnesie am gründlichsten ist. 

 

Exkurs

Imre Kertèsz spricht im Zusammenhang des Holocaust von Schicksallosigkeit  und beschreibt mit diesem Begriff den Umstand, wenn der Einzelne der Gewalt des Stärkeren  unausweichlich ausgeliefert ist und wenn er die Gewalt nur überleben kann, indem er sich beugt und schweigt und vergisst. Dieses erzwungene Einverständis mit der Gewalt hat das zur Folge, was man  „geraubte Zeugenschaft“ nennen könnte. Kertész betont, dass ausschließlich das relativ frühe Kriegsende (im Vergleich zur beabsichtigten Endlösung) verhindert hat, dass die Juden für immer vergessen wurden. Ohne die Zeugenschaft der wenigen Überlebenden gäbe es auch keinen Holocaust. Den Begriff der „Schicksallosigkeit“ könnte man, wenn er denn nicht so fest mit dem Holocaust verbunden wäre, auch auf kindliche Gewaltopfer anwenden, weil dem Kind das „Sich wehren“ nicht möglich ist, weil es, was es erleidet, wehrlos an sich erleidet, weil es zum Überleben den "Übergriff auf sich selbst" vergessen muss und weil die Gewalttat, wenn sie endgültig beschwiegen wird, gar nicht stattgefunden hat.

Heute sprechen wir bei alldem, was diese Familie erleiden musste, von traumatischer Erfahrung und beginnen langsam die Folgen solcher Erfahrung zu verstehen. Heute wissen wir sogar im Ansatz, wie traumatische Erfahrung aufgearbeitet werden kann, welche Begleitung dazu notwendig ist, welche therapeutischen Bedingungen notwendig sind zur Rehabilitation, mindestens aber zum Durchhalten. Es erstaunt, dass in der Nachkriegszeit die massenhafte traumatische Erfahrung des Einzelnen im Leben der Menschen nur im Bild dessen, der verrückt geworden ist und in die Heilanstalt "eingeliefert" wurde, aufscheint und dass ihr als Alltagsphänomen fast gar keine Bedeutung zugemessen wurde- es scheint sie fast gar nicht gegeben zu haben.

 



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