Resumee zum Fall Weber

 

 

Der "Fall" Weber kann 2016 überraschenderweise als nahezu vollständig aufgeklärt bezeichnet werden. Gewiss gibt es weitere Fragen am Rand: zur Gnadenpraxis im Fall Weber, zum Rechtsanwalt Carl Becker, zur Öffentlichkeitsarbeit von Brühl, zum Aufarbeitungswillen der Stadt, zum Schicksal der anderen Verurteilten, zur Entnazifizierung der Stadtspitze, zum Wiederaufstieg des Nationalsozialisten Effertz in der Stadt Brühl nach dem Krieg und und. Aber die wesentlichen Dinge sind aufgeklärt, die ersten Hypothesen in großen Teilen widerlegt und in anderen bestätigt.

 

Gabriel Weber muss schlussendlich als tragische Figur bezeichnet werden: zur falschen Zeit am falschen Ort das Falsche getan. Unentschuldbar. Auch nicht relativierbar durch ein Urteil wie "gut gemeint" und nicht entschuldbar auch seine fast krankhafte Hilfsbereitschaft. Das hat er wohl auch selbst so gesehen in seinem letzten Bericht, den er im Klingelpütz geschrieben hat. Wir wollen hier nicht Richter spielen, aber es ist anzunehmen, dass Gabriel Weber auch in einem rechtstaatlichen Verfahren mindestens zu einer hohen Geldstrafe verurteilt worden wäre, dienstrechtlich seine Beamtenstellung verloren hätte - für die Familie eine Katastrophe.

 

 

Tragisch seine Gutgläubigkeit und seine politische Naivität. Für ihn - nimmt man seine eigenen Worte ernst - scheint sich das Ganze ja so angefühlt haben, dass die oben zu dem, was er tut, nicken. Er war sich gewiss, dass er protegiert wird. Ihm wird schon nichts passieren. Sein Vorgesetzter wird ihn schützen, notfalls für ihn den Kopf hinhalten. Da wusste er noch nicht, dass es tatsächlich um nichts weniger ging als um den Kopf. Welche Illusion.

 

 

 

Die hohen Herren übrigens merken früh genug, dass sie aussteigen müssen. Am geschicktesten tut man das, indem man laut schreit: "Haltet den Dieb" und auf irgendwen zeigt. Einer der "Irgendwen" ist hier schnell ausgemacht: es ist Gabriel Weber. Der interne Ermittler bei der Stadt Brühl, Dr. Effertz wird schnell fündig, denn so offen wie Gabriel Weber sich strafbar macht, macht das kaum ein anderer. Im Prozess sagt die Metzgersfrau Josefine R. gar aus, Gabriel Weber habe ihr die Lebensmittelkarten regelrecht aufgedrängt und bekommt deshalb sogar mildernde Umstände.  An Gabriel Weber lässt sich leicht ein Beispiel statuieren und die Anweisung des Führers vom Anfang des Jahres erfüllen, man solle doch  ausdrücklich an der mittleren Beamtenschaft der "Volksgemeinshaft" vor Augen führen, dass die Parole nicht stimme, dass die Kleinen immer hängen und die Großen...

 

Die "hohen Herren" haben natürlich von nichts nichts gewusst. Sie werden nicht belangt: weder Schaller oder Grohé in Köln noch Pott in Wesseling oder Pick in Brühl. Ach ja, Wilhelm Pott, der muss immerhin im Prozess aussagen.  Weil aber der Schuldige schon lange feststeht und der Beschuldigte auch nichts gegen ihn in der Hand hat, ist (wahrscheinlich) die entsprechende Lüge nur noch Formsache. Dr. Josef Effertz, Nachfolger von Wilhelm Pott als Beigeordneter, interner Ermittler, Zeuge und offizieller Beobachter der Stadt vor Gericht, ab 1953 in Brühl wieder in Amt und Würden, war - wie sich erst 2016 - herausstellt, der zentrale Akteur in diesem bösen Spiel. Wieviel er wirklich durchschaute, wieweit er nicht nur die interne Ermittlung initiierte und führte, sondern wieweit er auch darin verstrickt war, andere Tatbeteilgte zu decken, wird wohl ohne Aufklärung bleiben. Seine Ermittlungen fokussieren jedenfalls einseitig einen Haupttäter: Gabriel Weber. Dr. Josef Effertz war damals noch jung, Nationalsozialist durch und durch, karrierebewusst, gerade einmal ein halbes Jahr im Amt als 1. Beigeordneter der Stadt, konnte und wollte sich wohl beweisen - und das in der Zeit des Intrigenspiels um den neuen Bürgermeister Pick. Kryptisch sein Satz, den er 1960 dem Sohn Leo bei dessen Verabschiedung aus den Diensten bei der Stadt Brühl zuflüstert: "Die Stadt Brühl hat an der Familie Weber viel gut zu machen."  Der Sohn ist damals nicht soweit, ihn zu fragen, was genau er damit meinte.

 

 

 

Über den Staatsanwalt André und den Blutrichter Carl Eich ist im Abschnitt über das Todesurteil alles gesagt.

 

Insgesamt hat sich die Hypothese von Leo Weber zur Hinrichtung seines Vaters bestätigt. Es gab allerdings keine Denunziation wie vermutet, sondern eher einen bösen Zufall: die Nähe der Arbeitszimmer von Effertz und Weber. Es gab tatsächlich einseitige Ermittlung und einseitiges Decken von möglichen Tätern auf der höheren Ebene der Politik. Aber es gab auch Dummheit und Selbstüberschätzung des Vaters, unglückliche Zufälle sowieso. Wilhelm Pott gerät ein wenig aus dem Fokus der "Nachklage" des Sohnes, dafür rückt ein anderer Verantwortlicher mitten hinein: Herr Dr. Josef Effertz. Ein Mann, mit dem der Sohn in den 50ern viele Jahre vertrauensvoll zusammengearbeitet hat, ein Mann, den Leo Weber immer geschätzt hat.

 

Damit ist insgesamt ein "Ermittlungsergebnis" erreicht, von dem wir am Beginn der Recherche nicht einmal zu träumen wagten. Der Neffe Winfried wusste so wenig, dass er 2010 gar den Suchdienst des DRK bemühen musste, um den Todestag des Onkels zu erfahren. Es lohnt sich also, den Dingen auf den Grund zu gehen, dies als Ermutigung für andere, die die Familiengeschichte aufarbeiten wollen.

Wenn wir nun sagen, wir hätten ein zufriedenstellendes Ermittlungsergebnis, so soll das nicht heißen, dass einzelne Facetten sich auch ganz anders abgespielt haben könnten, weil wir wichtige Informationen übersehen oder falsch interpretiert haben oder weil irgendwer irgendwann die in der Personalakte des Gabriel Weber erfassten Ermittlungen "gesäubert" hat. Nur Teile der Akte sind fortlaufend vorschriftsmäßig durchnummeriert. Die Vermutung, dass die Herren Pott, Pick und Effertz nach dem Krieg an Manipulationen der Akte möglicherweise ein unmittelbares Interesse gehabt haben könnten, das ist sicher keine böswillige Unterstellung. Dass Herr Effertz darüber hinaus ein großes Interesse daran hatte, dass niemand auch nur an den Fall Weber rühre, davon darf man wohl auch ausgehen. Ein Wiederaufnahmeverfahren oder Ähnliches hätte seine Nachkriegskarriere bei der Stadt Brühl vielleicht empfindlich gestört. Ob die beharrlich vorgebrachte Behauptung der Stadt Brühl, alle Akten, die Weber beträfen, seien vernichtet, eigener Überzeugung der Verantwortlichen entsprach oder vorgetäuscht war, lässt sich jedoch nicht wirklich klären. Sie verhinderte in jedem Fall jede weitere Untersuchung, jedes Wiederaufnahmeverfahren und auch zumindest bis 1995 jede Form der Wiedergutmachung.

 

Unaufgeklärt muss bisher auch bleiben, woher die von Effertz festgestellte Unrast des Gabriel Weber und seine damit verbundene Unbeirrbarkeit rührten, Karten auch dann noch zu unterschlagen, als Effertz die Kontrolle durch unterschiedliche interne Maßnahmen intensivierte. Ob hier bei Gabriel Weber schlicht der Verstand aussetzte, oder die Selbstherrlichkeit angesichts des bisherigen Gelingens jede Vorsicht vergessen ließ, darüber wüssten wir gewiss gerne mehr. Genauso gerne würden wir wissen, ob diese Unbeirrbarkeit schlichte Folge von direkter anhaltender Erpressung durch den Lebensmittelhändler Fuchs war. Hier könnte vielleicht die Gerichtsakte des Lebensmittelhändlers Fuchs Aufklärung geben. Fuchs hatte Weber in der Hand und die Karten, die Weber ihm zusteckte, waren - so das Gericht im Urteil gegen Weber - Folge einer Erpressung: Ich schweige über die Karten, die Rösch bekommt, wenn du mir auch welche besorgst. Und als Weber an Karten so leicht nicht mehr rankam, erpresste Fuchs ihn trotzdem. Sollte ihm doch egal sein, wie Weber die Karten besorgte. Erpressung würde gut zu der beschriebenen Unrast des Gabriel Weber passen und seine Unbeirrbarkeit direkt erklären. Selbstverständlich bewegen wir uns hier im Reich der Spekulationen und verlassen sozusagen die nüchterne Aktenlage, die für sich genommen erschütternd genug ist.

 

 

 

Zum vergeblichen Verteidigungsversuch des Gabriel Weber, er habe auf Anweisung von Vorgesetzten gehandelt, sei ein weiteres frei erfundenes Gedankenspiel erlaubt, ein Gedankenspiel, das aber (vielleicht) nach allem, was wir wissen, dem tatsächlichen Drehbuch der Geschichte am ehesten nahekommen könnte und nicht weit entfernt ist von dem, was im Rheinland auch heute noch als Kavaliersdelikt gilt, was man eben "Kölschen Klüngel" oder "Rheinische Lösung" nennt:

Gabriel Weber erhält seine Anträge auf Ausnahmegenehmigung für die Gaststätte Rösch überraschend vom Landratsamt zurück mit negativem Bescheid. Rösch wird also in Zukunft nicht mehr Karten als andere erhalten. Weber setzt sich mit seinem Vorgesetzten Pott zusammen, um zu beraten, was angesichts der schwierigen Lage (immerhin ist der Ratskeller zentraler Versammlungsort von Partei und Stadt) zu tun sei. Die Lage scheint aussichtslos. Weber sagt: "Rösch braucht unbedingt mehr Karten, wenn er die Partei ordentlich bewirten soll. Wir könnten ihm doch ein paar von den vielen Rückläuferkarten zustecken. Die werden eh verbrannt." Pott antwortet: "Das würde ihm helfen."

 

Weber nimmt das als Zustimmung. Da der Laden ab da weiterläuft, was Pott natürlich nicht entgeht, und weil Weber auch sonst spürt, dass sein Vorgesetzter ihn mag und ermutigt, nimmt er es immer mehr so wahr, als tue er das Ganze auf Anweisung. Der Weg, auch einige wenige Karten für sich persönlich zu nutzen, ist gebahnt.

 

Warum ein solches Gedankenspiel? Weil so am besten erklärt werden kann,

  • warum Weber glaubt, mit Zustimmung zu handeln und geschützt zu sein,
  • warum ein grundsätzlich gescheiter und fleißiger Beamter so auf Abwege gerät,
  • warum Weber nach seiner Versetzung ins Wohlfahrtsamt so hektisch versuchte, weiterhin an Karten für Rösch (und Fuchs) zu kommen, obwohl sein persönlicher Nutzen davon verschwindend gering war,

vielleicht sogar,

  • warum Pott subjektiv überzeugend sagen und beeiden kann, Weber niemals eine Anweisung zur Unterschlagung gegeben zu haben.

 

Der ganze Rest ist dann leider kein Gedankenspiel und keine Hilfsbereitschaft mehr. Er ist in seiner ganzen Brutalität gut dokumentiert.

 

Festzuhalten bleibt, dass das Urteil selbst zum Himmel schreit und ein Unrechtsurteil mit besonders grasser Rechtsbeugung darstellt. Rechtsbeugung deshalb, weil Vorsatz vorliegt: die Chance auf ein anderes Urteil gab es nie. Gabriel Weber und seine Kinder zählen zu den Opfern des Nationalsozialismus.


Version dieser Seite: 2/2017