Die ErmittlunGen der Stadt Brühl

Kriegswirtschaft ist eine komplexe Angelegenheit- auch in Brühl. Brühl beginnt die Kriegsbewirtschaftung 1939 mit der Herausgabe eines "Wegweiser(s) durch das neue Kartensystem", was allein schon zeigt, wie komplex die Aufgaben der neu geschaffenen Wirtschaftsstelle sind. Danach benötigte man Lebensmittelkarten und Bezugskarten "Für Butter, Schlachtfette (Schmalz, Speck, talg), Margarine oder Pflanzen- oder Kunst- Speisefettt oder Speiseöl, Käse, Zucker, Marmelade, Nährmittel. Kaffee- Ersatz und Zusatzmittel, Mehl, brot Backwaren, Kindernährmittel, Kartoffelstärkeerzeugnisse, Fleischwaren und alle sonstigen Waren" (Thrams, S. ...)  wie Schuhe, Kleidung etc. Zudem musste unterschieden werden zwischen Karten für Normalverbraucher, Schwerarbeitern, Schwerstarbeitern und Kindern. Das alles bezogen auf jeden einzelnen Haushalt mit alle den Veränderungen der Haushaltsmitglieder, wie sie der Krieg durch Fronteinsatz, Urlaub, Tod mit sich brachte. Das Gaststättengewerbe war darüber hinaus in einer besonders schwierigen Lage, weil auch hier das Schnitzel oder was auch immer mit Bezugskarten der Abnehmer abgerechnet werden musste. Die Ausgabe der Karten war in der Zentrale abzurechnen.

 

Tatsächlich hatte diese Komplexität zur Folge, dass die Verteilung sehr grundsätzlich nicht reibungslos klappen konnte (eigentlich erstaunlich, wie gut und diszipliniert sie insgesamt funktionierte) und sie in Teilen unkontrollierbar war. In der Folge hatte jede zentrale Ausgabestelle mit hohem Kartenfehlbestand zu kämpfen, zum Teil systemisch bedingt, zum Teil auch dadurch verursacht, dass Einzelne sich das System zunutze machten.

 

Offensichtlich (siehe sein Bericht) hat es sich der neue 1. Beigeordnete Dr. Josef Effertz ab Dienstantritt am 01.09.1941 zur ersten Aufgabe gemacht, Ordnung in das Chaos der Kartenverteilung zu bringen. Er stellt schon sehr bald Fehlbestände fest, die sich nicht erklären lassen. Effertz reagiert mit "interner Ermittlung". Die Ermittlungen gegen Gabriel Weber und andere gehen unmittelbar von der Stadtverwaltung Brühl aus. Anders als bisher vermutet, gibt es ganz offensichtlich keinen Denunzianten oder konkreten Auftrag zur Ermittlung von außen etwa durch eine Aufsichtsbehörde wie den Landrat oder die Regierungsbehörde in Köln. Die Ermittlung nimmt damit ihren Beginn in den Wirren um die intrigenhafte Ablösung des langjährigen Bürgermeisters Freericks im Frühjahr 1941. Der 1. Beigeordnete Pott vertritt ihn bis zur Installation des neuen Bürgermeisters Pick am 1.08.1941. Pott hatte sich ursprünglich selbst Hoffnungen auf das Bürgermeisteramt gemacht. Aus undurchsichtigen Gründen findet aber ein vollständiger Wechsel im nationalsozialistischen Führungstableau von Wesseling und Brühl statt. Nachfolger des Brühler Bürgermeisters Freericks wird der langjährige Ortsgruppenleiter Pick, Pott erhält den Bürgermeisterposten in Wesseling. Nachfolger von Pott wird ab dem 1.09.1941 der junge aufstrebende Verwaltungssbeamte Dr. Josef Effertz.

 

Herr Effertz vermutet schnell, dass die Probleme bei der Zuteilung nicht nur auf Fehlleistungen beim Zählen und auf der überkomplexen Organisation beruhen, sondern dass offensichtlich Karten unterschlagen werden. Er versucht mit immer neuen Verwaltungsvorschriften, persönlichen Ermahnungen und internen Schulungen den Verteilvorgang in der Zentrale in den Griff zu bekommen und vermutet bald schon den Schwund der Karten in den einzelnen Ausgabestellen. Besonders auffällig die Kartendiskrepanzen im Bezirk Brühl- Nord.

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Ermittlungsschritte
1. Ermittlungen der Kriminalpolizei in Brühl- Heide. Bericht des 1. Beigeordneten Effert dazu und zu seinen Gegenmaßnahmen gegen Unterschlagung
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Effertz veranlasst im März 1942 nach vielen vergeblichen internen Ermittlungsversuchen schließlich eine kriminalpolizeilich akribische Untersuchung dieser Unstimmigkeiten. Diese Untersuchungen mit zahlreichen Befragungen und Gegenüberstellungen (die Protokolle füllen allein 32 Doppelseiten) führen jedoch zum Ergebnis, dass die Kartenverluste mit großer Sicherheit doch nicht bei den örtlichen Ausgabestellen verortet werden können. Es bleibt nur die Möglichkeit, dass schon bei der zentralen Verteilung in der Wirtschaftsstelle im Rathaus selbst Karten verschwinden.

Effertz hofft durch überraschende Kontrollen seinerseits und auch durch direkte heimliche Observation (er schleust Konrektor Weiler als Aufsicht ein) den Übeltäter zu finden. Durch diese Maßnahmen nimmt der Kartenschwund ab Okt. 1941 tatsächlich deutlich ab, ohne jedoch gänzlich zu versiegen.

 

Der Ehrgeiz des jungen Behördenleiters ist soweit entfacht, dass er zur 34. Zuweisungsperiode (Frühjahr 1942) schließlich die Karten unter seiner direkten Aufsicht blockweise aufteilen und akribisch nachzählen lässt oder selbst nachzählt. Am 17.03 abends lässt er die Karten  deshalb in sein Amtszimmer bringen und dort in einem abschließbaren Zwischenraum zur Tür, die in die Privatwohnung des Bürgermeisters führt, vermeintlich sicher verschließen. Als am nächsten Tag die Karten abgeholt und zu den Ortsstellen gebracht werden, stellt sich erneut heraus, dass Karten fehlen. Effertz schaltet die Kriminalpolizei in die Ermittlungen ein, die feststellt, dass ausschließlich der Amtsleiter Effertz einen Schlüssel zum Zwischenraum besaß und somit die Tür mit einem Dietrich von Effertz Dienstzimmer aus geöffnet worden sein muss. Verdächtig sind mehrere Personen, die möglicherweise die Karten entwendet haben könnten, unter anderem Gabriel Weber deshalb, weil der im Nebenzimmer seinen Arbeitsplatz hat. Gabriel Weber leugnet einen solchen Einbruch vehement und wohl auch mit großer Plausibilität. Die Indizienlage ist so dünn, dass dieser Vorwurf des Einbruchs, von dem das Unheil seinen Ausgang nimmt, folgerichtig später auch nicht zu einem Punkt der Anklage gemacht werden kann.

 

Und doch nimmt das Schicksal genau an diesem Punkt, an diesem Dienstag seinen tragisch unerbittlichen Lauf. Gabriel Weber wird man zwar nie nachweisen, dass er die Tür mit einem Dietrich geöffnet hat und Karten entwendet hat, wie man überhaupt für den Kartenverlust dieser Nacht niemanden überführen kann und auch niemanden verhaftet oder gar anzeigt. Tatsächlich führt aber die fatale Schlussfolgerung, dass Weber für den Diebstahl am ehesten in Frage komme, dazu, dass die Kriminalpolizei Hausdurchsuchungen durchführt und bei einzelnen städtischen Mitarbeitern wie z. B. auch Gabriel Weber auf unrechtmäßig vorhandene Lebensmittelkarten bzw. Lebensmittel stößt. Die Ehefrau des Gabriel Weber gesteht sofort voller Angst, kaum hat die Hausdurchsuchung begonnen, dass sie darum weiß, dass ihr Mann Karten entwendet hat. Im weiteren Verlauf der Ermittlungen wird schnell klar, dass gleich mehrere Mitarbeiter der Verteilstelle sich einzelne Karten (meist Rückläuferkarten) angeeignet hatten, besonders aber Gabriel Weber, Frau Gruschke, Frau Thelen und Frau Döring. Der Stein kommt sehr schnell und mächtig ins Rollen, als keiner der Verdächtigen schweigt, sondern jeder sofort Geständnisse, zumindest Teilgeständnisse ablegt, sogar jeweils andere beschuldigt, sich doch auch bereichert zu haben - wahrscheinlich in der törichten kindlichen Hoffnung, so der eigenen Strafe entgehen zu können.

Nüchtern und klar bleibt in den kriminalpolizeilichen Vernehmungen nur ein Einziger, Johannes Wichterich, Geschäftsinhaber in Brühl (heute noch: "Küchenwicht") und bester Freund des Gabriel Weber. Seine Vernehmung wird offensichtlich nur deshalb vorgenommen, weil dieser als der beste Freund von Weber und deshalb als verdächtig gilt. Seine Aussage nüchtern und klar: "Ich habe niemals von Weber Karten erhalten oder angeboten bekommen." Keine weiteren Ermittlungen oder sonstige Nachteile.

 

Im Rückblick wahrlich tragisch: tatsächlich hatte der interne Ermittler Effertz auch nach der Hausdurchsuchung nur wenig in der Hand, die beteiligten Täter hätten allenfalls für die Entwendung einiger weniger Karten angezeigt werden können, lieferten sich aber schließlich vor allem durch ihre vorzeitigen Geständnisse, ihre Widersprüche in den Geständnissen und zusätzlich durch gegenseitige Beschuldigungen und eigene Rechtfertigungen selbst ans Messer, was im Falle des Gabriel Weber wörtlich zu nehmen ist. Das umfassende Geständnis Webers nützt ihm an keiner Stelle irgendwas. Als er es ablegt, hat sich die Schlinge schon um den Hals gelegt bzw. wird das Fallbeil schon gerichtet.

 

Exkurs einseitige Ermittlung: Wer für die nächtliche Entwendung der extra verschlossenen Karten tatsächlich verantwortlich war, ist nie aufgeklärt worden. Das herauszufinden, war im weiteren Verlauf offensichtlich auch nicht mehr wichtig oder opportun. Man hatte Täter und man hatte schnell einen Hauptschuldigen- das war entscheidend. Im Nachhinein auffällig, dass Dr. Josef Effertz auf den naheliegendsten Einfall bei seiner Ermittlung gar nicht erst kommt (jedenfalls erwähnt er das an keiner Stelle): dass nämlich die Türe zum Zwischenraum auch von der Privatwohnung des Bürgermeisters Pick aus geöffnet worden sein könnte. Von dort war der Zugang zu den Amtsräumen jederzeit auch nachts möglich und das nicht nur durch den Bürgermeister selbst. Die nachweisliche Tatsache, dass Bürgermeister Pick die Stadt im März 1945 vorzeitig nicht nur unter Mitnahme der Stadtkasse sondern auch unter der Mitnahme der Lebensmittelkarten (Protokoll seiner späteren Festnahme durch die britischen Militärbehörden!) verlassen hat, lassen von heute aus gesehen die Vermutung durchaus als nicht unplausibel erscheinen, dass er vielleicht auch selbst (oder Haushaltsmitglieder) schon früher bei den Karten "zugegriffen" hat. Wenn Effertz hier vielleicht sogar mehr gewusst oder zumindest geahnt hat, dann bekommt sein Satz 1960, die Stadt habe an den Kindern Weber etwas gut zu machen, noch einmal einen ganz realen und unerwarteten Sinn.

 

Ob der Schwund von Karten mit der Verurteilung der festgenommenen Täter im März 1942 tatsächlich ein Ende gefunden hat, ist mithin unbekannt. Jedenfalls gibt es weder einen Hinweis darauf, dass danach alles in Ordnung war noch auf das Gegenteil. Es bestand nach der Verhaftung von Weber offensichtlich schlicht kein Interesse mehr an weiteren Ermittlungen. Der Mohr hat seine Schuldigkeit getan. Das harte Vorgehen der Partei gegen Korruption war eindrücklich bewiesen, die Ablenkung von der Grohé- Schaller- Affäre, die zugleich höchste Wellen schlug, gelungen. Bajohr fasst diese besonderen Zeitläufte in seiner großen Untersuchung zur Korruption im Nationalsozialismus so zusammen: "Seit Frühjahr 1942 entwickelte sich eine Erwartungshaltung, die eine demonstrative Reaktion verlangte und durch ein symbolisches Bauernopfer befriedigt werden sollte."(S. 166)

 

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1. und 2. Bericht Effertz
Bericht vom 24.03.1942 an den Landrat und Bericht vom 26.03.1942, geschrieben von Dr. Effertz für den Bürgermeister, Unterschrift Pick
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Exkurs zum Aussageverweigerungsrecht: Das Ganze fast ein Lehrstück für die rechtsstaatliche Notwendigkeit des Rechts auf Aussageverweigerung. Nichts scheint mehr mit Risiko für eine spätere Verurteilung belegt denn der Selbstrechtfertigungsreflex, dem die Ehefrau Maria unglücklich schon in dem Augenblick unterliegt, als die Polizei auftaucht, den Ortsgruppenleiter Rösing im Gefolge. Gabriel Weber und die anderen reiten sich mit jedem gesprochenen Wort tiefer ins Unglück. Gabriel Weber gar in den Tod. Nichts vom Gesprochenen, vom Zugegebenen kann er zurücknehmen, nichts mehr in die Waagschale des Urteils werfen. Der späte Versuch, den früheren Amtsleiter Pott dazu zu bringen, sich als Auftraggeber für die "Ratskellerkarten" selbst zu beschuldigen, scheint von vornherein aussichtslos und wirkt sich am Schluss sogar ins Gegenteil zu seinem Schaden aus. Ihm wird diese "Ehrabschneidung" vom Richter strafverschärfend zum Vorwurf gemacht. Gabriel Weber ist schneller zum Sündenbock gemacht als er selber dem Geschehen folgen kann. Sein Optimismus den Kindern gegenüber ("mir kann nichts passieren") nur noch ein Luftschloss. Er ist das ideale Bauernopfer. Endlich kann die Partei auch im Rheinland zeigen, wie sie mit eisernem Besen kehrt und die Anweisungen des Führers unmittelbar umsetzt. Nun hat auch Brühl seinen großen Korruptionsfall und die Gelegenheit zu beweisen, dass es falsch ist zu behaupten, dass man nur den kleinen Mann hänge und die Großen laufen lasse - ganz so wie es der Führer im Februar angewiesen hatte (vgl. Abschnitt über  Korruption im Dritten Reich).

 

Das Aussageverweigerungsrecht war übrigens in der Strafprozessordnung des Deutschen Reiches fest verankert und wurde selbst im Nationalsozialismus bei der Revision der StPO 1939 nur insoweit leicht korrigiert, als dem vernehmenden Beamten auferlegt wurde, den "Täter" zur Aussage zu ermuntern.

Die Koordination der Ermittlungen übernimmt für die Stadt Brühl Dr. Josef Effertz. Die Ermittlungen laufen gut aufeinander abgestimmt, ohne dass man sagen oder nachweisen könnte, es sei von irgendeiner Stelle besonderer Druck auf einen der beteiligten Ermittler ausgeübt worden. Jeder tut sozusagen seine Arbeit. Die Kriminalpolizei ermittelt nach ihren Vorgaben mit Verhör und Gegenüberstellung, Herr Effertz versucht dienstlich weiter zu ermitteln, gleichzeitig die Fäden in der Hand zu halten und seine Wirtschaftsstelle wegen der vielen Festnahmen zu reorganisieren. Er fasst die Erkenntnisse der Kriminalpolizei für seinen Bericht an den Oberstaatsanwalt und an den Landrat zusammen. Peter Pick unterschreibt als Bürgermeister. Zwischendurch gibt es nüchterne fernmündliche Anweisungen des Landrats bzw. des zuständigen Beamten Breitbach an Dr. Hellenbroich, die Gehaltszahlungen an Weber schon für April auf Eis zu legen, die Gaststätte "Ratskeller" sofort zu schließen und über die weiter Entwicklung zu berichten (vor allem in Bezug auf andere Beteiligte).

 

Zur internen Ermittlung des Dr. Effertz gehört ein Gespräch (wahrscheinlich Telefonat nach Art der Notizen) mit Wilhelm Pott, seit August 1941, Bürgermeister in Wesseling und sein Vorgänger im Amt. Das Ergebnis des Gespräches hält er in einer (vorliegenden) handschriftlichen Aktennotiz fest. In der Notiz sind Stichworte aus der ersten Vernehmung Webers zu finden, Hinweise auf die Kartenabnehmer Rösch und Fuchs und die Rechtfertigungsversuche von Gabriel Weber- augenscheinlich zur Vorbereitung des Gesprächs.

 

Die festgehaltene Antwort Potts bestätigt zumindest indirekt die Aussage Webers, dass er aus Hilfsbereitschaft gehandelt habe und nur ganz am Rande zum Eigennutz, vielleicht sogar dessen späteren Hinweis, dass er auf Anweisung bzw. mit Duldung Potts gehandelt habe:

 

Pott nimmt im Gespräch mit Effertz Weber deutlich in Schutz:

"Pott: W. hat die Karten nur an sich genommen, um den Wirten zu helfen, u. genießt einen sehr guten Ruf in der Bürgerschaft, hält ihn nicht für fähig, aus reiner Gewinnsucht gehandelt zu haben. ...(3 Worte  unleserlich) u. lebte bescheiden. Die Brühler Bürgerschaft unterschreibt das 100%ig."

Mehrere Aussagen sind hier von entscheidender Bedeutung: Offensichtlich muss es ein Einverständnis oder gar ein Einvernehmen zwischen Pott und Weber gegeben haben. Wieso sonst kann Pott nach längerer Abwesenheit von Brühl über die Motivation von Weber so sicher urteilen ("um den Wirten zu helfen")? Im Übrigen hält er ihn nicht einmal für fähig, aus Gewinnsucht zu handeln - eine starke, fast ehrabschneidende Bemerkung, die er sogleich noch verstärkt mit dem Hinweis auf seinen bescheidenen Lebenswandel. Tatsächlich ist der ja  nachweislich in jeder Weise bescheiden. Wenn man will, kann man den letzten Satz so interpretieren, als gebe Pott dem jungen Nachfolger noch einen wichtigen Rat mit auf seinen Ermittlungsweg: "Leg dich nicht mit der Bürgerschaft an".

 

So sehr man beim Studium der Ermittlungsakten den Anschein von Objektivität gewinnt (gewinnen soll), an dieser Stelle wird deutlich, dass man auch durch Weglassen die Richtung beeinflussen kann. Diese wichtige Gesprächsnotiz findet keine Aufnahme in den Bericht von Effertz. Auf diese Weise ist Pott aus der Schusslinie genommen und Weber als Haupttäter fokussiert. Effertz informiert die Kriminalpolizei über dieses Telefonat augenscheinlich nicht, denn diese hätte mit aller Wahrscheinlichkeit mit Verhör und Gegenüberstellung reagiert, was aber nicht geschieht. Es ist nicht völlig abwegig zu schließen, dass der gesamte Prozess sich in eine andere Richtung hätte bewegen können, wenn Effertz diese Einschätzung von Pott früh übernommen oder diese berichtet hätte.

 

Möglicherweise hat aber der Jurist Effertz sofort die Brisanz der mündlichen Aussage seines Vorgängers begriffen. Diese Äußerung vor Gericht gemacht, ein geschickter Richter hätte Pott umgehend in Widersprüche verwickeln können.

 

Wir schließen aus dem Ganzen auch, dass die überraschende gerichtliche Zeugenvernehmung Potts, der als Person in den Ermittlungsunterlagen nirgendwo erwähnt worden war, auf Initiative des Rechtsanwalts Becker zustandegekommen sein muss - weil der Richter sonst gar keinen Anlass zur Vorladung gehabt hätte. Dass Pott im Gericht seine Äußerung über die Hilfe für die Gastwirte nicht wiederholt, geschweige denn sein Einvernehmen mit Weber darüber eingesteht, ist aus seiner Sicht menschlich verständlich. Immerhin wiederholt er in der Vernehmung seine positive Beurteilung des Charakters von Weber und hebt seine Hilfsbereitschaft und seinen Fleiß deutlich hervor.

 

Dr. Josef Effertzs Rolle in der Ermittlung als schillernd zu empfinden, ist unseres Erachtens nicht zuweit hergeholt. Ihm ist mindestens in Teilen der Vorwurf einseitiger parteilicher Ermittlung zu machen, weil er bestimmte Personen, hier vor allem den Bürgermeister Pick und den früheren Beigeordneten Pott, vollständig aus dem Ermittlungstableau raushält. In einem rechtsstaatlichen Verfahren hätte er auch sich selbst zumindest als befangen aus dem Verfahren nehmen und einen Ermittler von außerhalb berufen müssen. Der wirkliche Grund, warum er nicht bereit ist, den Ball aufzunehmen, den Weber ihm mit dem Hinweis zuspielt , er habe auf Anweisung oder mit Einverständnis von oben (Pott) gehandelt, kann nicht mehr aufgeklärt werden.

 

Hinweise darauf, dass die wesentlichen Unterschlagungen zum Wohle der Wirte geschahen und diese in jedem Fall im Interesse der Stadt und der Partei gelegen haben, gibt es zahlreiche:

  • Zuallererst die Behauptung des Gabriel Weber selber,er habe im Auftrag gehandelt und sein unerschütterlicher Optimismus, bald schon wieder frei zu sein.
  • Weber selbst hat noch in seiner schriftlichen Lebensbeichte vor der Hinrichtung mit großer Bitterkeit zusammengefasst, was das eigentliche Verhängnis seines Lebens gewesen ist: seine Hilfsbereitschaft.
  • Seine im Effertzbericht beschriebenen verzweifelten Versuche, nach Einführung der zahlreichen Kontrollen doch noch irgendwie an Karten zu kommen ("ich brauchte Karten") und die offensichtliche innere Not, die er bei Nichtbeschaffung empfand, ohne aber persönlich in einer finanziellen Notlage gewesen zu sein.
  • Mitteilungen zur Hilfsbereitschaft des Weber in der Bürgerschaft (Rösch, Broicher, weitere Leumundszeugnisse, die verloren gegangen sind, Frau Berg z. B. noch 2015) und in der erweiterten Familie (z.B. die Kinder).
  • Die überraschende Bereitschaft des Richters, auf Bitte des Verteidigers, Pott als Zeugen zu laden und zu vereidigen. Unter Umständen wäre ein noch größerer Prozess den Karrierewünschen von Eich gelegen gekommen.
  • Die öffentlich bei einer großen Kundgebung 1934 persönlich von Freericks und Pott gegenüber der gewichtigen Wirtevereinigung von Brühl gemachte Zusage, sich besonders für den Wirtestand zu engagieren, weil er zu den Schlüsselgewerben der Stadt gehöre (vgl.  Thrams Bd. 1, S. 109). Die "Volksnähe" der Nationalsozialisten zu ihrer Klientel sollte nicht unterschätzt werden.
  • Weil die Versorgung des Gastwirtes Rösch der Stadt ein besonderes Anliegen war, betrieb er doch die Gaststätte im Herzen der Stadt ("Die gute Stube von Brühl"), die zugleich Versammlungsort von Partei und Stadtspitze war. Für Partei und Stadtspitze war bei Rösch immer bestens aufgetischt (siehe auch den Hinweis von Frau Berg)
  • Weil die Gaststätten Röschs Vereinsmittelpunkte waren. Vereine, bei denen der Bürgermeister selbst der Vorsitzende war (Städtische Chorvereinigung 1846 Brühl und besonders wichtig die St Sebastianus- Schützenbrüderschaft). Vereine, die von der Partei zur Durchsetzung ihrer Programmatik instrumentalisiert wurden und denen man in der Kriegszeit besondere Bedeutung für die anhaltende Loyalität der Bürger zusprach (vgl. Thrams Bd. 2, S. 103 ff.).

 

Den stärksten Hinweis, dass die Rechtfertigungsversuche Webers bezüglich seiner Hilfsbereitschaft der Wahrheit entsprechen, gibt es in den polizeilichen Ermittlungen selbst, nämlich im Zusammenhang mit den Karten für den Lebensmittelhändler Broicher. Hier ermittelt die Kriminalpolizei, dass Weber und Broicher nur deshalb miteinander in Kontakt kamen, weil ein gemeinsamer Bekannter (Herr Klodt) Broicher und Weber gezielt zusammen brachte. Anlass war die von Broicher gegenüber dem Herrn Klodt geäußerte Verzweiflung, seine Lieferungen nicht mit der Anzahl seiner eingenommenen Lebensmittelkarten in Übereinstimmung bringen zu können und Gefahr zu laufen, die Gaststätte schließen zu müssen und in der Folge verhaftet zu werden. Klodt sagte zu, sich zu kümmern, er kenne jemand im Amt, der hilfsbereit sei. Weder im Ermittlungsbericht des Dr. Effertz noch später im Prozess wird dieser Hinweis auf ein mögliches strafmilderndes Motiv näher in Betracht gezogen. Im Prozess wird die Hilfsbereitschaft gar lächerlich gemacht. Staatsanwalt und Richter bleiben schließlich bei ihrem vorgefassten Urteil des eigennützigen Volksschädlings, dem jede Hilfsbereitschaft nur willkommene Tarnung für seine Selbstbereicherung war.

 

Handschriftliche Aktennotiz zu einem Gespräch Effertz- Pott, eingeordnet in der Akte vor den Ermittlungen der Kriminalpolizei

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Zusammenfassung Ermittlungen
Zusammenfassung der kriminalpolizeilichen Vernehmungen. Auch die Einzelverhöre sind auf 98 Seiten dokumentiert, hier aber nicht abrufbar
Zusammenfassung Ortspolizei.pdf
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Zusammenfassung:  Die interne Ermittlung durch Effertz wird von diesem zu örtlichen kriminalpolizeilichen Ermittlungen ausgeweitet, diese ergeben schließlich einen Tatvorwurf, der zwingend zur weiteren Strafverfolgung durch den Oberstaatsanwalt in Köln führt. Alternative Ermittlungsversuche unterbleiben oder werden zurückgehalten. Vom Oberstaatsanwalt Meißner wird der junge Staatsanwalt André mit der Anklage beauftragt, der wiederum ausgesprochen zügig eine "gnadenlose" Klageschrift vorbereitet, die bereits die Verurteilung von Gabriel Weber als Volksschädling und damit die Todesstrafe präjudiziert.

 

Bitterer Nachgeschmack:

Nach dem Krieg arbeitet der Sohn Leo Weber bei der Stadt Brühl. In den 50er Jahren wird Dr. Josef Effertz schon bald CDU- Mitglied, ab 1953 wieder bei der Stadt Brühl verbeamtet und Leo Webers Vorgesetzter als Leiter des Fürsorgeamtes, früher Wohlfahrtsamt. Leo Weber schätzt den Vorgesetzten sehr und baut ein stabiles Vertrauensverhältnis auf, was wohl auf Gegenseitigkeit beruht.

Was Leo Weber nicht weiß: Effertz ist der, von dem er alles bis ins Detail über seinen Vater hätte erfahren können. Er war der interne Ermittler, er hat die Richtung zumindest der Ermittlungen bestimmt, er war beim Prozess, er war beim Urteil anwesend. Er hat Weber (gewiss folgerichtig und nicht persönlich böswillig auch aus heutiger Sicht) aus dem Beamtenverhältnis entlassen und die Familie um deren Lebensgrundlage gebracht. Anzunehmen ist, dass er wusste, dass und wo die Personalakte des Vaters zu finden war.

 

Leo Weber war ganz dicht dran, wenn man so sagen will. Er hat nichts erfahren können, nichts. Und Effertz wusste um die Verzweiflung des jungen Mannes. Sein Hinweis beim Abschied von Leo Weber aus Brühl, was Brühl an den Kindern wieder gut zu machen habe, : auf dieser Folie beschaut, billig und unwürdig.

 

Bemerkenswert: Unseres Wissens hat niemand von der Stadt und niemand von der Partei die internen Ermittlungen an die Presse durchgestochen. Das obwohl die Redaktion des "Westdeutschen Beobachters" neben der Gaststätte "Ratskeller" (die kurzfristig sogar behördlich geschlossen wurde) liegt und neben der Parteizentrale- und schräg gegenüber liegt das Rathaus. Offensichtlich war man von der Stadtverwaltung her bis zum Prozess bemüht, die internen Ermittlungen auch intern zu halten. Vielleicht wollte man damit nur eine Rufschädigung der Stadt verhindern. Vielleicht wollte man so die Einzeltäterhypothese nicht gefährden. Vielleicht wollte man aber auch Gabriel Weber und andere Mithelfer nicht der blindwütigen Hetze des "Westdeutschen Beobachters" aussetzen und Vorverurteilung vereiteln. Möglich ist auch, dass man städtischerseits von der Unerbittlichkeit der Anklageschrift und Urteil selbst überrascht worden ist. Zur Presse siehe unter "Todesurteil"


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